Infomail Wissenschaft (Nr. 5, Mai 2020) – Schwerpunkt: Tourismus neu denken
INHALTSVERZEICHNIS
TOURISMUS IN DER KRISE!? TOURISMUS NEU DENKEN ODER RETOUR IN ALTE MUSTER?
Einschätzungen von Expertinnen und Experten aus der Tourismuswirtschaft, von NGOs, aus der Wissenschaft sowie aus dem Journalismus.
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COVID-19 UND DIE ZUKUNFT DES TOURISMUS: WARUM DIESE KRISE ANDERS IST UND WAS SICH VERÄNDERN DÜRFTE von ACTNetwork – Action for Climate & Tourism
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TOURISMUS – NACHHALTIG AUS SER KRISE?!! Ein Diskurs zwischen Harald A. Friedl (FH JOANNEUM Bad Gleichenberg) und Cornelia Kühhas (respect_NFI)
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Tourismus in der Krise!? Tourismus neu denken oder retour in alte Muster?
Wir schreiben Woche 9 seit der Verordnung des Lock-Downs hier in Österreich. Vorsichtige Hoffnung macht sich breit, dass das Schlimmste überstanden ist, aber die weitere Entwicklung ist nicht absehbar. Dennoch beschäftigt uns die Frage, wie es mit dem Tourismus weitergehen kann und soll – und vor allem, in welche Richtung? Wird es „nach Corona“„more of the same“ geben oder gelingt die Wende zur Nachhaltigkeit?
Dazu haben wir Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bereichen um ihre Einschätzung gebeten:
Aus der Tourismuswirtschaft: Petra Thomas (Geschäftsführerin des forum anders reisen), Christian Hlade (Inhaber von WeltWeitWandern) und Josef Peterleithner (Präsident des Österreichischen ReiseVerbandes ÖRV).
von NGOs: Antje Monshausen (Tourism Watch & Vorsitzende des Roundtable Human Rights in Tourism), Claudia Mitteneder (Geschäftsführerin Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e.V.);
aus der Wissenschaft: Christian Baumgartner (Professor für Nachhaltigen Tourismus, CEO response&ability gmbh), Gerhard Frank (Frank Erlebnisdramaturgie), Peter Laimer (Stv. Leiter der Direktion Raumwirtschaft an der Bundesanstalt Statistik Österreich);
JournalistInnen: Roswitha Reisinger & Christian Brandstätter (Lebensart-Verlag; Herausgeber der Magazine Lebensart und Businessart) und Daniel Nutz (Chefredakteur der ÖGZ – Österreichische Gastronomie-Zeitung)
Wir haben diese Fragen gestellt:
Zum Vertiefen:
Analyse "Tourismus nach 2020 – (W)ende?" von Christian Baumgartner
Analyse "Tourismusentwicklung nach der Krise" von Peter Laimer
COVID-19 und die Zukunft des Tourismus: Warum diese Krise anders ist und was sich verändern dürfte
ACTNetwork – Action for Climate & Tourism
Die Covid-19-Krise
Der Tourismus war in der Vergangenheit immer wieder mit Krisen konfrontiert. Wie schwer die Auswirkungen waren, war bei den verschiedenen Arten von Krisen und auch den betrachteten Teilbereichen des Tourismussystems unterschiedlich. Die Pandemien in den letzten zwanzig Jahren (Vogelgrippe, SARS, Ebola …) führten bei einer Reihe von Indikatoren – wie z.B. Hotelbelegungsraten, Fluggastzahlen und verringerten Investitionen in die Tourismusinfrastruktur – zu einem starken Rückgang des regionalen Tourismus und Reiseverkehrs, aber auch zu einer relativ raschen Erholung im Vergleich zu anderen Krisen. Die Belegungsraten von Unterkünften haben sich innerhalb von ein bis fünf Jahren erholt (siehe auch Borko, 2018), während der Flugverkehr tendenziell bis zu zehn Jahre für eine vollständige Erholung benötigt (siehe WEF, 2015).
Bloß zu behaupten, Covid-19 sei anders, wäre eine gewaltige Untertreibung. Die Covid-19-Pandemie hat inzwischen die meisten Länder der Erde erreicht und weltweit beispiellose Reisebeschränkungen und wirtschaftliche Schäden verursacht. Mehr als 90 % der Weltbevölkerung unterlag Anfang April vollständigen oder teilweisen Reisebeschränkungen, und während der weltweite Rückgang des Flugverkehrs in vergangenen Krisen 10 % erreichte, sehen wir uns derzeit mit einem globalen Rückgang von 75 % konfrontiert. Dieser massive Rückgang des internationalen Reiseverkehrs wird voraussichtlich drei Monate andauern, bevor ein verändertes Luftverkehrssystem mit neuen Regeln für die Einhaltung der physischen Distanzierung und die Gesundheitsüberwachung sowie mit reduzierten Routen und höheren Kosten wieder in Erscheinung tritt.
Aufgrund ihrer weit verbreiteten und erheblichen Auswirkungen wird die Covid-19-Pandemie Angebot und Nachfrage im Tourismus auf vielfältige Weise beeinflussen. Konventionelle ökonometrische Methoden und Modelle, welche die Veränderungen des Einkommens, der Preissensibilität und der Nachfrage zu simulieren versuchen, können die Effekte dieser Krise nicht zur Gänze erfassen. Seit dem Aufkommen des globalen Massentourismus nach dem 2. Weltkrieg gibt es keine Analogie zu den kumulativen Auswirkungen von Notfallschließungen, verbunden mit einer großen Zahl von Unternehmenspleiten, einer wirtschaftlichen Rezession (die in vielen Ländern zu einer Rekordarbeitslosigkeit führte), längeren Reisebeschränkungen, verringerten Kapazitäten im Gastgewerbe (physische Entfernung, die die Betriebskapazität auf 25 bis 50% reduziert) und psychologischen Auswirkungen, die sich in Reiseangst manifestieren, insbesondere bei Risikogruppen, wie z.B. der älteren Bevölkerung. Zusätzliche Reputationsrisiken dürften einige Märkte, z.B. Kreuzfahrten, überdurchschnittlich stark beeinträchtigen.
Die Covid-19-Pandemie ist weitaus komplexer als alle bisherigen Krisen. Es ist unmöglich, den Verlauf der wirtschaftlichen Erholung im Allgemeinen und die Nachfrage nach Tourismus im Besonderen vorherzusagen, zumal es nach wie vor große Unterschiede in den Test- und Behandlungskapazitäten der Länder sowie Unsicherheiten im zeitlichen Ablauf der Entwicklung und der Verteilung von Impfstoffen gibt. Der vorliegende Reflexionsartikel liefert einige erste Überlegungen dazu, wie sich das globale Reise- und Tourismuswesen verändern könnte, einschließlich möglicher struktureller Veränderungen, Nachfrageverschiebungen und einer daraus resultierenden veränderten Geographie der Tourismusströme.
Dass das globale Reise- und Tourismussystem durch Covid-19 verändert wird, steht außer Zweifel. Die Ungewissheit besteht allerdings darin, wie es sich verändern wird. Um gestärkt aus dieser beispiellosen Krise hervorzugehen, gilt es grundlegend darüber nachzudenken, welche Elemente des Tourismus-Systems erhaltenswert sind. Es erscheint naheliegend, dass alle Teilbereiche des Tourismus zu einem neuen, widerstandsfähigeren Tourismussystem beitragen müssen, und dass unter Berücksichtigung nachhaltiger Entwicklungsziele (SDGs) staatliche Investitionen und Konjunkturpakete einen solchen erhofften Wandel in hohem Maße beeinflussen werden. Um zu einem nachhaltigeren Tourismus in der Zukunft beitragen zu können, sollten unterschiedliche Pfade der Erholung und Weiterentwicklung beschritten werden. Wir, die Gemeinschaft der Tourismustätigen, ob als Forschende oder als Servicedienstleistende, dürfen in diesem kritischen Moment nicht abseitsstehen, sondern müssen unsere Leidenschaft für den Zweck einsetzen.
Wie sich die Touristenströme verändern könnten
Trotz der Ungewissheit lassen sich – zumindest auf der Grundlage der aktuellen Informationen und frühzeitiger Reaktionen – einige Veränderungen mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Bis ein Impfstoff für Covid-19 gefunden und in größerem Umfang umgesetzt sein wird, erscheint es naheliegend, dass Reisebeschränkungen bestehen bleiben, wenn auch einige Länder Reiseverkehr früher zulassen könnten. Doch bleibt die einseitige Öffnung von Reisezielen (Beispiel: Sizilien bietet potenziellen Besuchern an, die Hälfte des Flugpreises zu zahlen, Insider, 2020) wirkungslos, wenn die Herkunftsländer noch nicht zu einer Öffnung bereit sind. Es wird darum einige Zeit dauern, bis sich die Nachfrage nach Urlaubsreisen zu den Urlaubsdestinationen „durchsetzt“, insbesondere, wenn diese weiter von den Quellmärkten entfernt sind. Reisen in die nähere Umgebung und Inlandsreisen werden wahrscheinlich zunächst die Nachfrageseite des Tourismus dominieren.
Es ist wichtig, die Rolle der Entfernung in den globalen Tourismusströmen zu verstehen. Vor der Covid-19-Krise bezog sich ein wesentlicher Teil der internationalen Ankünfte auf Langstreckenreisen. Das Modell eines stark globalisierten Tourismussektors ist wegen des vergleichsweise großen Kohlenstoff-Fußabdrucks, der mit dem Tourismus verbunden ist, in die Kritik geraten (siehe Global Sustainable Tourism Dashboard, 2020). Was wird also geschehen, wenn sich die Menschen plötzlich dafür entscheiden, weniger weit zu reisen?
Ein von der Universität Breda entwickeltes Tourismus-Verkehrsmodell (Peeters & Eijgelaar, 2014) zeigt, dass es möglich sei, die Tourismusströme hypothetisch ohne nennenswerte Verluste pro Land auf näher gelegene Ziele (z.B. innerhalb von 3.000 km) umzuverteilen. Ausnahme ist eine kleine Anzahl abgelegener Gebiete und Inseln. Diese Länder werden sowohl in der gegenwärtigen Krise als auch in künftigen Klimawandel-Reaktionspaketen starke Unterstützung benötigen.
Einige Länder verfügen bereits über beträchtliche inländische Tourismusmärkte, und es ist wahrscheinlich, dass deren Marktanteil steigen wird, solange Reisebeschränkungen bestehen. In Neuseeland etwa könnte der derzeitige Verlust von 3,9 Millionen internationalen Ankünften in einem beträchtlichen Ausmaß durch diejenigen Neuseeländer, die nicht das Land verlassen können, zu einem großen Teil kompensiert werden (3,1 Millionen im Jahr 2019). Das oben erwähnte Modell würde für Neuseeland sogar zu einem Gewinn von etwa 1 % führen, wenn die Reiseentfernungen weltweit auf 3.000 km beschränkt würden. Dies basiert jedoch auf Daten aus dem Jahr 2005 und verkennt, dass Besucher aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Gründen reisen, u.a. um andere Kulturen zu erleben, Freunde und Verwandte zu treffen oder neue Dinge zu lernen.
Das Volumen des Tourismusaufkommens in einem Reiseziel hängt demnach nur bedingt von der Existenz eines florierenden Fernreisemarktes ab. Tatsächlich zeigen die vorliegenden Daten, dass 78 % der weltweiten Reisen nicht mit dem Flugzeug durchgeführt werden. Zudem können insbesondere die Kurzstreckenflüge durch andere Verkehrsmittel ersetzt werden, z.B. durch die Bahn, die bereits vor dem Ausbruch der Covid-19-Krise substanzielle Zuwächse verzeichnen konnte.
Es ist jedoch wichtig, klimabedingte Veränderungen (z.B. in Europa die Verlagerung vom Flugzeug auf die Bahn) und Pandemie-Reaktionen (kürzere Reisedistanzen aufgrund von Beschränkungen oder Sicherheitsbedenken) nicht zu vermischen. Der Schienenverkehr zum Beispiel birgt auch Infektionsrisiken, und auch hierfür werden Sicherheitsvorkehrungen wie die Einhaltung sozialer Distanzierungsregeln gelten. Beide Effekte zusammen könnten zu einem Anstieg des Pkw-basierten Reiseverkehrs für kurze bis mittlere Entfernungen führen. Eine potenzielle Abneigung gegen Kreuzfahrtschiffreisen könnte diesen Trend noch verstärken, was bedeuten würde, dass einige Reiseziele ihren Schwerpunkt verlagern müssten, soweit sie dazu in der Lage sind.
Es liegt auf der Hand, dass Verlagerungen von Langstreckenreisen hin zu mehr lokalen Tourismusströmen erhebliche Auswirkungen auf die Transportanbieter haben. Für einige Anbieter wird die Erholung ein langwieriger Prozess sein – ohne Garantie, dass frühere Niveaus jemals wieder erreicht werden können. Einem erneuten ungebremsten Wachstum könnten etwa nicht-pandemische Faktoren entgegenstehen. Für den Luftfahrtsektor wären das etwa die Konsolidierung des Fluganbieter-Marktes (weniger Angebot), dessen Finanzlage, dessen Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit (z.B. Sicherheitsempfinden oder Solidarität zur Unterstützung der heimischen Industrie) und dessen Kohlenstoffemissionen („Flugscham“). Ein Rückgang der weltweiten Touristenströme hat insofern auch ein beträchtliches Potenzial zur Verringerung des Kohlenstoff-Fußabdrucks des Tourismus, erfordert jedoch ein gewisses proaktives Management auf der Ebene der Reiseziele.
Die folgende Abbildung zeigt die Experteneinschätzung von ACTNetwork zur unterschiedlichen Dauer der Erholungsphase einzelner Branchen im Tourismus.
Unterstützung der Industrie
Aktuell werden Unterstützungspakete der Regierung für die Reise- und Tourismusindustrie intensiv diskutiert. Das Verständnis zukünftiger Verbraucherpräferenzen und Veränderungen der globalen Reiseströme sind wesentliche Determinanten für die Entwicklung geeigneter staatlicher Pakete. Deren Ziel sollte es jedenfalls sein, die Kernelemente des Tourismussystems zu unterstützen, ohne dabei die Anfälligkeit für künftige Krisen zu subventionieren. Die Bewertung von Investitionen anhand von Parametern wie Anzahl der geschaffenen Arbeitsplätze oder Kohlenstoffemissionen pro Dollar/Euro Unterstützungspaket sind bei der Entscheidungsfindung von entscheidender Bedeutung. In den Gesprächen über die Auflagen von Rettungspaketen, etwa für Fluggesellschaften, stehen Modelle einer stärkeren Beteiligung und Einflussnahme der Regierung zur Diskussion. Dies würde dem Ansatz für den Schienenverkehr in vielen Ländern folgen, wonach das Schienennetz primär als „öffentliches Gut“ denn als vollständig kommerzielles Unternehmen gesehen wird.
Die Stimulierung der lokalen Wirtschaft hat mehrere Vorteile. Tourism Australia plant beispielsweise für Juni die Veröffentlichung einer Kampagne, die sich auf die Erkundung lokaler Attraktionen konzentriert. Das beginnt mit der Hervorhebung der Erlebnismöglichkeiten rund um Restaurants, Cafés und Aktivitäten in der Nähe des Wohnortes, gefolgt von regionalen, innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Reisen. In einigen Fällen könnte dies sogar zu plötzlichem innerstaatlichen „Übertourismus“ führen.
Eine verstärkte Konzentration auf inländische Kampagnen ersetzt die traditionellen internationalen Marketingaktivitäten. Für einige lokale Tourismusanbieter bedeutet dies, dass sie ihre Produkte an einen neuen Kundenstamm anpassen müssen. Neue Marktforschung könnte notwendig sein, da viele Länder ihre Marketingbudgets hauptsächlich darauf ausgerichtet haben, internationale Besucher anzuziehen. Insgesamt dürfte die Erholung für lokale Unternehmen jedoch schneller erfolgen als für diejenigen, die auf den Transport von Menschen über große Entfernungen angewiesen sind (z.B. Fluggesellschaften, Flughäfen, Reisebüros) oder die einen weitgehend internationalen Kundenstamm haben (z.B. internationale Hotelketten). Eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen lokalen Unternehmen würde wahrscheinlich die Industrie und ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber künftigen Krisen stärken.
Um sicherzustellen, dass lokale Attraktionen und öffentliche Parks offen und attraktiv bleiben, sollten diese durch staatliche Unterstützungspakete bevorzugt gefördert werden. Dies gilt insbesondere gegenüber jenen touristischen Komponenten, die ein höheres Risiko bergen, die Branche in nicht-nachhaltige Bahnen zu lenken. Öffentliche Kunstgalerien, Museen, Bibliotheken usw. bilden den Eckpfeiler der lokalen kulturellen Aktivitäten, sei es der Bildung oder der Unterhaltung. Ihr Überleben zu sichern ist für langfristig gesunde Gemeinden und einen florierenden Inlandstourismus unerlässlich. Diese lokalen Anbieter, ob öffentlich oder privat, könnten von Ressourcen profitieren, die zur Entwicklung von Fähigkeiten im Bereich des Erfahrungsdesigns, der Digitalisierung und des nachhaltigen Ressourcenmanagements beitragen.
Eine Verlagerung weg von Massentourismus und den Langstreckenmärkten hin nach innen, um für Einheimische und Touristen aus nahen Quellmärkten einen Mehrwert zu schaffen, könnte nicht nur die Lebensqualität für die betroffenen Einheimischen verbessern, sondern auch die Attraktivität für zukünftige qualitätsorientierte Touristen aus internationalen Quellmärkten erhöhen. Vielleicht sind die langfristigen Auswirkungen dieser Pandemie eine erfrischende Wertschätzung des lokalen und regionalen Lebensraums und eine größere Vorfreude auf weniger häufige, aber dafür sinnstiftende Fernreisen.
Das Autoren-Team: Das ACTNetwork („Action for Climate & Tourism“) ist eine globale Gruppe von Experten, die durch Zusammenarbeit einen positiven Beitrag zur Entwicklung von langfristigen Lösungen für einen kohlenstoffarmen und Klima-resistenten Tourismus beitragen und diese kommunizieren wollen (https://www.linkedin.com/company/actnetwork). Die Mitglieder sind Bijan Khazai, Susanne Becken, Harald A. Friedl, Daniel Scott, Daniel Nutz, Johanna Loehr, Anna Pollock, Robert Steiger, Emma Whittlesea, Debbie Hopkins und Paul Peeters.
Quellen:
Borko, S. (2018). 10 Years Later: How the Travel Industry Came Back From the Financial Crisis. Retrieved from https://skift.com/2018/09/14/10-years-later-how-the-travel-industry-came-back-from-the-financial-crisis/
Global Sustainable Tourism Dashboard (2020). Emissions. https://www.tourismdashboard.org/carbon-emissions/
Insider (2020). The Italian island of Sicily is offering to pay for half your flights and a third of your hotel costs if you visit later this year. https://www.insider.com/sicily-offers-pay-half-flight-costs-boost-tourism-coronavirus-italy-2020-4
Peeters, P. M., & Eijgelaar, E. (2014). Tourism's climate mitigation dilemma: flying between rich and poor countries. Tourism Management, 40, 15-26.
Tourism Research Australia (TRA) (2019). Tourism Satellite Account 2018/19. https://www.tra.gov.au/ArticleDocuments/185/Tourism%20Satellite%20Account%202018-19.pdf.aspx
WEF. (2015). The Travel & Tourism Competitiveness Report 2015. Growth through Shocks (ISBN-13: 978-92-95044-48-7). Geneva.
Tourismus – nachhaltig aus der Krise?!
Wie werden wir „nach Corona“ reisen? Wie wird die Tourismuswelt aussehen? Wird der Weg in Richtung Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda 2030 der Vereinten Nationen gehen? Werden die 17 Ziele der „Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung der Welt“ unsere Leitlinien sein?
CORNELIA KÜHHAS, Expertin für Nachhaltige Tourismusentwicklung und Entwicklungszusammenarbeit bei respect_NFI, & HARALD A. FRIEDL, Professor für Nachhaltigkeit und Ethik im Tourismus am Institut für Gesundheits- und Tourismusmanagement der FH JOANNEUM Bad Gleichenberg, wagen in ihrem Diskurs einen Blick in die Zukunft – und zeichnen durchaus kontroverse Szenarien ...
Kühhas: „Corona zeigt, wie stark uns eine globale Krise als Weltgemeinschaft treffen kann. Wir bekommen aber auch eine Vorstellung davon, was der Klimawandel als globale Krise in den nächsten Jahrzehnten zerstören könnte. Das sollte uns wachrütteln!“, so Patricia Espinosa, die Generalsekretärin der UNO-Klimarahmenkonvention in einem Interview mit dem deutschen Magazin „Der Spiegel“, zitiert in https://orf.at/stories/3161302/. Ich schließe mich Frau Espinosa an, denn ich denke auch, dass die Corona-Pandemie tatsächlich ein Weckruf auch für die Tourismusindustrie sein muss. Die Krise führt uns ja deutlich die negativen Auswirkungen – und damit auch die Grenzen – der sich in den letzten Jahren rasant entwickelnden Tourismuswirtschaft und unseres Reiseverhaltens vor Augen.
Friedl: Das wäre wünschenswert, halte ich jedoch für äußerst unwahrscheinlich. Denn schon unter normalen Bedingungen ist die Neigung zu strategischem Denken, jener vorübergehende Ausstieg aus dem Hamsterrad, um – frei nach der chinesischen Devise „Wenn Du in Eile bist, gehe langsam“ – über Sinn und Zweck einer eingeschlagenen Richtung nachzudenken, äußerst spärlich vorhanden.
Dies gilt im österreichischen Tourismus besonders aufgrund unserer strukturellen Prägung durch die zahlreichen KMU. Unter Stress jedoch ist die Neigung zu selbstkritischer Reflexion noch geringer. Diese Krise verursacht gerade für die KMU massiven Stress in Form von existenziellen Bedrohungen. Dass gerade jetzt diese UnternehmerInnen reihenweise mit selbstkritischen Reflexionen beginnen, um aus der Krise eine Chance zu machen, wäre zwar höchst wünschenswert, doch die tief eingegrabenen Muster des Vertrauten und Gewohnten sowie der Blick auf historische Erfahrungen sprechen dagegen. Das Hauptproblem: Corona wird als schmerzhafter Feind betrachtet, gegen den es sich zu wappnen gilt. Corona ist zwar klein und unsichtbar, aber doch irgendwie „personalisierbar“. Doch Corona – eine konkret erfahrbare Epidemie – ist kein Klimawandel, der langsam, unsichtbar und permanent stattfindet, und das Schlimmste daran: Das Klima erwärmt sich weiter sogar während des globalen Corona-Lock-downs, weil die Emissionen sehr langfristig wirken …
Kühhas: Und gerade weil der Großteil der Unternehmen nicht „geläutert“ aus der Krise hervorgehen wird, müssen endlich politische und gesetzliche Rahmenbedingungen für die (Tourismus-)Wirtschaft geschaffen werden, die die Richtung für eine nachhaltige Entwicklung der Tourismuswirtschaft bzw. der Umsetzung der Agenda 2030 insgesamt vorgeben. In der Corona-Krise haben wir gesehen, dass – wenn eine aktuelle Bedrohung besteht – der Staat schnell reagieren und agieren kann und muss, um dieses Problem in den Griff zu bekommen, „der Markt“ wird es nicht regeln können. Die Pandemie zeigt uns wie ein Vergrößerungsglas die „Schwachstellen“ unseres Wirtschaftssystems und der Globalisierung auf – wie schnell sich das Virus aufgrund unserer Mobilität und des Tourismus auf der ganzen Welt verbreitet hat. Nun ist unser Bewegungsradius allerdings sehr eingeschränkt, und das dürfte noch eine Zeitlang so sein. Ich denke aber, dass dieses Innehalten(-Müssen) und die Entschleunigung, die damit einhergeht, dazu führen, dass das Reisen(-Dürfen) eine neue Wertschätzung erfährt, dass Reisen etwas „wert“ ist und kein alltägliches Konsumprodukt, das möglichst billig und ständig verfügbar sein muss ...
Friedl: Du hast absolut Recht. Das wäre wünschenswert! Und dazu könnten Unternehmen das Ihre beitragen, indem sie ihre Produkte entsprechend innovativ weiterentwickeln. Ich kenne tatsächlich KMU, die die aktuelle Zeit nutzen, um ihre Infrastruktur im Rahmen des Möglichen zu renovieren, zu verschönern, sich besser aufzustellen. Doch deren Hauptmotiv liegt darin, wie sie nach der Krise möglichst rasch wieder möglichst effektiv Geld durch Tourismus verdienen können. Solch wirtschaftliches Denken ist grundsätzlich unverzichtbar, aber eben nicht genug. Warum ist das so? Das neurobiologische Kernproblem, das sehr oft ignoriert wird: Man kann das Nicht-Gedachte nicht denken! Womit sich Menschen noch niemals beschäftigt haben, ist als Denkmöglichkeit in den Gehirnen (noch) nicht angelegt. Wenn wir uns nun die tourismussystem-erhaltenden Ausbildungssysteme anschauen, dann finden sich dort bislang Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaerwärmung immer nur – im besten Fall – als Freigegenstand. Und wenn von Nachhaltigkeit die Rede ist, so wird auch in der Fachliteratur überwiegend von „nachhaltigem Wachstum“ gesprochen. Das sind tief eingegrabene Muster an Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen. Tourismussoziologisches Verhalten agiert im Prinzip nicht anders: Es passte sich den immer vielfältigeren Möglichkeiten an, die sich zudem auf immer größere soziale Schichten ausweiteten. Dadurch entstand eine neue Selbstverständlichkeit, jene Kultur der Mobilität. Nicht umsonst bezeichne ich Tourismus bewusst als „Geschäft mit mobilem Konsum“. Doch anstatt über Grenzen des (raschen) kulturellen Wandels zu jammern, sind wir ForscherInnen gefordert, auf die Bedingungen des Wandels zu blicken: Wir haben an der Corona-Kultur „schön“ gesehen, wie rasch sich die Menschen aus Angst vor Krankheit und Sanktionen angepasst haben. Wie wünschenswert diese Motivation war, sei dahingestellt. Doch zeigt dies deutlich, dass ohne determinierende Rahmenbedingungen, somit ohne einschneidende Gesetze, nach dem Wegfall der Einschränkungen alte Muster aufflammen werden, die noch dazu Glücksgefühle versprechen. Was folgt daraus? Ich versuche es zunächst mal mit Thesen: Der Staat muss Rahmenbedingungen setzen, die
- klimafreundlichen Urlaub attraktiver und erschwinglicher macht, während klimabelastende Urlaubsformen verteuert werden, wie Subventionen von klimaschonenden Investments, öffentlichen Verkehrsmitteln, Trainings und Zertifizierungen für das Umweltzeichen, oder die jüngste Idee, stark subventionierte Gutscheine für Urlaub in Österreich (https://www.derstandard.at/story/2000117325014/regierung-erwaegt-geschenkten-oesterreich-urlaub-fuer-helden-der-krise)
- den symbolischen Wert von regionalem Urlaub steigern. Hier wäre eine enge Verbindung mit Schulen ein Weg: fort vom klassischen Schikurs hin zu neuen Formen der naturnahen Erlebnis- und Bewegungs-Schulwoche …
Kühhas: ... das wäre sicher eine gute Sache, um gerade bei den Kindern und Jugendlichen die Lust an nachhaltigem Urlaub zu wecken. Generell zu sagen „Macht nur mehr Urlaub in der Region“ kann aber auch keine Lösung sein. Denn der Tourismus ist in vielen Regionen der Welt ein wichtiges wirtschaftliches Standbein und kann auch aus entwicklungspolitischer Sicht in Ländern des Globalen Südens einen Beitrag leisten, um Wohlstand und die Lebensqualität zu steigern und zur sozialen Gerechtigkeit beizutragen – sofern er ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachträglich entwickelt wird. Abgesehen davon, dass Reisen auch den Horizont erweitert und im Idealfall eine sinnstiftende Erfahrung für Reisende und Bereiste ist ...
Es geht also auch um die Entwicklung der Destinationen – hier bei uns in Österreich und weltweit. Besonders von der Krise wirtschaftlich „gebeutelt“ sind Regionen, die fast gänzlich vom Tourismus leben und damit von ihm abhängig sind. Wichtig für eine nachhaltige und damit auch krisensicherere Ausrichtung ist, dass es mehrere Standbeine gibt, dass die Akteure und Wirtschaftszweige in der Region vernetzt sind, dass auf lokale Beschaffung gesetzt wird und die Wertschöpfung vor Ort stattfindet. So können lokale Märkte gestärkt und krisensicherer werden. Auch hier könnte mit staatlichen Vorgaben gelenkt werden. Und schließlich geht es auch darum, welche Unternehmen die Krise überleben werden – hier ist die Förderpolitik der Staaten gefordert – und welche Angebote es letztendlich am touristischen Markt geben wird; es muss Kostenwahrheit geben, dass also die negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen eingepreist werden, Stichwort: Besteuerung von Kerosin, wie du schon erwähnt hast. Es muss über eine starke Beschränkung oder ein Verbot von Kurzstreckenflügen gesprochen werden, und über den raschen und effizienten Ausbau der Bahnverbindungen ...
In den letzten Wochen ist von staatlicher Seite viel Geld geflossen, um die Wirtschaft zu unterstützen. Diese Überbrückungshilfen sind wichtig, doch die Zahlungen dürfen nicht nach dem Gießkannenprinzip erfolgen, sondern müssen zielgerichtet sein; es braucht klare Leitlinien, dass die Geldmittel auch im Sinn einer ökologisch und sozial nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung eingesetzt werden, die bereits gesetzten Klimaschutzziele unterstützen und sie nicht konterkarieren.
Aktuell schreien ja die Fluggesellschaften nach einer staatlichen Finanzspritze. Das finde ich geradezu dreist – schließlich hat die Branche jahrelang u.a. von der fehlenden Steuer auf Kerosin profitiert und wenig Ambitionen zum Klimaschutz gezeigt. Hier unterstütze ich die Forderungen der Petition der Plattform Stay-Grounded: Steuergelder für die Rettung von Fluggesellschaften müssen an Bedingungen geknüpft werden, nämlich daran, dass der Klimaschutz und die MitarbeiterInnen im Mittelpunkt stehen! (https://stay-grounded.org/savepeoplenotplanes/)
Friedl: Frechheit siegt. Dreistigkeit ist das Erfolgsprinzip hinter dem Slogan „Too big to fail…“. Hier werden Wirklichkeiten durch ihre schlichte Behauptung geschaffen. Zudem wird das alte Totschlagargument der Arbeitsplätze zelebriert. Wie perfide dieses Argument ist, zeigte sich bereits vor 40 Jahren angesichts der Noricum-Krise, als die VÖEST Kanonen an einen kriegführenden Staat lieferte. Kreisky ließ gewähren mit dem Hinweis, sich nicht erwischen zu lassen … Heute „gilt“ Flugverkehr als „unverzichtbar“ für die als Wirtschaftswachstums-Garant apostrophierte Globalisierung, die zugleich wieder zum Ermöglicher der Corona-Krise wurde.
Fazit: Wie schon immer in der Politik, arbeiten Lobbyisten für die Durchsetzung von einzelnen, aber starken Interessen. Nun liegt es an den Lobbyisten einer zukunftsfähigen, klimaschützenden Tourismusentwicklung, dafür zu kämpfen, nicht „more of the same“ zuzulassen und entsprechende Rahmenbedingungen einzufordern. Bitte, Friday-for-Future-Anhänger, geht wieder auf die Straße. Jetzt ist Eure Zeit, jetzt ist Euer Einsatz gefragt, jetzt kann er etwas bewirken!
Kühhas: Das kann ich nur unterstützen! Wir dürfen neben dem Klimaschutz aber auch die sozialen Fragen nicht vergessen. In der Krise haben wir alle erlebt, wie wichtig die Menschen hinter den Kulissen sind – die so genannten „Systemerhalter“, im Lebensmittelhandel, bei der Müllabfuhr, im medizinischen Bereich. Das gilt ja auch für den touristischen Bereich. Hier arbeiten viele Menschen im Hintergrund, aber oft unter prekären Bedingungen. Ich erwarte mir hier von der Tourismuswirtschaft und der Politik, dass soziale Gerechtigkeit, faire Arbeitsbedingungen und die Achtung der Menschenrechte gerade jetzt und nach der Krise wieder stärker im Blick sind. Die Wochen im erzwungenen Homeoffice haben aber auch gezeigt, dass sich über das Internet ganz gut konferieren und besprechen lässt. Das lässt hoffen, dass in Zukunft verstärkt auf Videomeetings gesetzt wird und man nicht wieder schnell mal nach Brüssel fliegt für eine zweistündige Besprechung. Viele Kurzstreckenflüge könnten so vermieden werden, was letztlich ja für die Firmen auch günstiger käme.
Friedl: Videokonferenzen haben einige grundlegende Vorteile, insb. die Ersparnis von Zeit- und Reisekosten; vor allem sind Langstreckenflüge alles andere als lustig (in der Economy-Klasse). Doch zeigen sich insbesondere dort, wo hoher Kontextualisierungsbedarf besteht und somit ein hoher Bedarf an der Herstellung von gemeinsamen Vorstellungen, die Schwächen von großen Videokonferenzen. Dort neigen erfahrungsgemäß die zahlreichen TeilnehmerInnen dazu, entweder durcheinanderzusprechen oder vor sich hinzuschweigen. Vor allen sind derartige Konferenzen geistig extrem anstrengend. Sie sind ein bisschen wie Demokratie, definiert nach Churchill: somit eine schlechte Lösung für globale Kommunikation, aber es gibt keine umweltfreundlichere. Allerdings kann es auch sein, dass wir einfach erst lernen müssen damit gut = gelassen und effektiv mit digitalen Kommunikationsmedien umzugehen. Viele Menschen haben bis heute noch nicht begriffen, wie man E-Mails sinnvoll einsetzen kann – und wo sie überhaupt nicht „funktionieren“… Allerdings können viele Menschen auch heute noch nicht Face-to-Face konstruktiv streiten. Letztlich darf auch der Faktor Spaß bei digitaler Kommunikation keineswegs zu kurz kommen, sonst verpufft die Motivation. Ich für meinen Teil bin dank der Krise erstmals wieder mit entfernt lebenden Freunden zum abendlichen virtuellen Bier zusammengekommen, Corona sei Dank … denn auch ich lerne dazu.
Kühhas: ... wie wir alle! Und ja, alles lässt sich nicht über Video machen und der persönliche Austausch von Angesicht zu Angesicht ist sehr wichtig. Ich muss aus persönlicher Erfahrung sagen, dass sich bei mir auch manchmal das „Zoom-Fatigue“-Syndrom (ja, dafür wurde schon ein Wort erfunden!) einstellt, Besprechungen per Video brauchen mitunter viel Energie ...
Friedl: … ganz abgesehen vom den enormen Energieverbrauch der Server, die all die digitalen Netzwerke am Laufen halten. Gerade darin liegt eigentlich die größte, zuweilen recht frustrierende Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung: Kaum meint man eine neue technische Lösung entwickelt und verbreitet zu haben, Peng! Schon machen sich die unerwünschten Bumerang-Effekte bemerkbar. Darüber aber lästern wir in unserem nächsten Streitgespräch …