Infomail Wissenschaft Nr. 9 (Juli 2022)

Infomail Wissenschaft

INHALT

Timbuktus Kulturschätze zerstört durch Fundamentalisten: Widerstand gegen touristische Kolonialisierung oder schlichtes Verbrechen? Von HARALD A. FRIEDL -- zum Beitrag

Tourismus und Bürgerkrieg im Jemen: Eine Analyse von friedensstärkenden Maßnahmen in einem zerrütteten Land. Von HARALD A. FRIEDL -- zum Beitrag

Reisen in Konfliktregionen – zwischen Selbsterfahrung und Sensationslust. Von SABRINA HAASE -- lesen Sie auf der Website von fairunterwegs weiter

Srebrenica – City of Hope. Mit nachhaltigem Tourismus die Gräben des Krieges überwinden und neue Perspektiven schaffen. Von CORNELIA KÜHHAS -- zum Beitrag

Durch Nachhaltigkeit aus den Konflikten … oder Bürgerkrieg durch forcierte Nachhaltigkeit? Von HARALD A. FRIEDL -- zum Beitrag

Tourismus – Friedensbringer oder Kriegstreiber? Ein Diskurs zwischen HARALD A. FRIEDL, SABRINA HAASE & CORNELIA KÜHHAS -- zum Diskurs

 


 

Timbuktus Kulturschätze zerstört durch Fundamentalisten: Widerstand gegen touristische Kolonialisierung oder schlichtes Verbrechen?

2012 wurde die mythische Wüstenstadt Timbuktu Opfer von Vandalismus. Der junge Tourismusforscher Lukas Schagl untersuchte die Frage nach den Motiven der fundamentalistischen Täter. Dabei hat die Forschung über Sahara-Tourismus an der FH JOANNEUM eine lange Tradition.

von HARALD A. FRIEDL

Tuareg
Traditioneller Tuareg-Nomade der Region (Foto: Harald A. Friedl)

Timbuktu im Norden des heutigen Sahel-Staates Mali zählte für lange Zeit zu den großen Sehnsuchtsorten in Westafrika. Nahe dem Niger-Fluss gelegen, war dieser Ort ein zentraler Kreuzungspunkt für Karawanen von Schwarzafrika ans Mittelmeer sowie nach Osten Richtung Ägypten und Mekka, was seinen Ruf als reiche Stadt begründete. Mit der Gründung der Universität Sankoré im 15. Jahrhundert begründete die Stadt ihre herausragende kulturelle Bedeutung als ein Zentrum muslimischer Gelehrsamkeit. Dessen Bibliothek soll an die 100.000 Manuskripte umfasst haben. Aufgrund dieser überragenden kulturhistorischen Bedeutung war Timbuktu 1988 als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnet worden.

Tmbuktu historisch
Timbuktu in alter Ansicht aus dem Jahr 1853, dargestellt vom deutschen Sahara-Forscher Heinrich Barth

Der Mythos von Timbuktu, inmitten einer magischen Wüstenlandschaft gelegen, zog seit der Kolonialisierung Westafrikas durch Frankreich neugierige Tourist*innen an, die den Bewohner*innen wie auch den umliegenden Tuareg-Nomaden ein bescheidenes Zusatzeinkommen beschieden. Diese Entwicklungen waren jedoch stets fragil. So ließ die Unabhängigkeitsbewegung Malis Anfang der 1950er-Jahre den Tourismus versiegen, nachdem sich regionale Tuareg-Gruppierungen für einen Verbleib bei Frankreich ausgesprochen hatten. Daraufhin wurde die gesamte Region für Jahrzehnte zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Nachdem in den 1990er-Jahren eine Tuareg-Rebellion gegen die malische Diktatur mit einem Friedensvertrag beendet wurde, kam es zu einer kurzen Renaissance eines regionalen Sahara-Tourismus (Friedl 2008a, 2008b). Mit der Invasion der USA im Irak und dem darauffolgenden „Krieg gegen den Terror“ verschärfte sich die Sicherheitslage in der Region für ausländische Besucher*innen zunehmend (Friedl 2010). Entführungen von westlichen Besucher*innen wurden gleichsam zum neuen „Geschäftsmodell“ (Friedl 2009a). Diese Entwicklung gipfelte 2012 in der Region um Timbuktu, dem sogenannten „Azawads“, in einem Militärputsch und einer Unabhängigkeitserklärung durch Tuareg-Rebellen. Diese wurden jedoch selbst kurz darauf von radikal-islamischen Gruppierungen verdrängt. Ihren absoluten Herrschaftsanspruch bezeugten diese Fundamentalisten durch die gezielte Zerstörung von Teilen des UNESCO-Welterbes von Timbuktu.

Timbuktu Karte
Karte von der Zentralsahara mit dem Verbreitungsgebiet der Tuareg und der Lage Timbuktus

Was konnte diese Dschihadisten bewogen haben, UNESCO-Kulturstätten mutwillig zu vernichten? Welche politischen und strategischen Ziele wollten sie dadurch erreichen? Diese Frage hatte Lukas Schagl als Ausgangspunkt einer Forschung im Rahmen seiner Bachelorarbeit gewählt. Dabei interessierte ihn auch die Frage, wie diese Zerstörung von relevanten Stakeholdern in Timbuktu wahrgenommen und beurteilt wurde, ob etwa die überragende kulturelle Bedeutung Timbuktus gar nur Ausdruck einer westlich-musealen Sichtweise und somit eine kulturelle Vereinnahmung sei.

Tuareg Kämpfer
Tuareg-Rebellen in Kampfmontur (Foto: Harald A. Friedl)

Dazu wertete der Studierende des Studiengangs „Gesundheitsmanagement im Tourismus“ an der FH JOANNEUM im Wesentlichen internationale Fachliteratur aus. In seinen Ergebnissen konnte Schagl nachweisen, dass der Zerstörungsakt der Dschihadisten ein ostentativer Ausdruck ihrer Macht und damit auch ihrer Dominanz über andere Formen des Islams gewesen sei. So lehnten die Täter etwa die Verehrung von Heiligen, wie sie im gegenwärtigen Volksglauben Timbuktus immer noch üblich ist, als ketzerisch ab (Schagl 2021).

 

Tuareg-Kämpfer
Die Kalaschnikow ist die effektivste Waffe unter den Sahara-Fundamentalisten (Foto: Harald A. Friedl)

Timbuktu wurde Ende Januar 2013 von französischen und malischen Truppen zurückerobert. Diese militärische Intervention hatte für den Sahara-Tourismus weit reichende Folgen. So sperrte etwa Algerien seine Grenzen für ausländische Besucher*innen mit der Begründung, aus Timbuktu vertriebene Fundamentalisten könnten in der algerischen Sahara Zuflucht suchen und dabei westliche Tourist*innen entführen. Diese Befürchtung war keineswegs abwegig, denn bereits im Jahr 2003 hatte die Salafisten-Gruppe GSPC in der Algerischen Sahara 32 europäische Tourist*innen entführt und zum Teil für 177 Tage festgehalten (Friedl 2005).

Timbuktu
Der Sehnsuchtsort Timbuktu als lohnenswertes Ziel einer Karawane – und eines Touristenbesuchs (Foto: Harald A. Friedl)

 

Forschung über Sahara-Tourismus, dessen soziokulturelle und politische Auswirkungen sowie über die Wechselwirkung zwischen Tourismus und Tuareg-Rebellen hat eine lange Tradition an der FH JOANNEUM. Lukas Schagls Betreuer, Prof. Dr. Harald A. Friedl, hatte bei den Tuareg gelebt und für die dortige Tourismusentwicklung geforscht (Friedl 2009b). In den 2000-Jahren war er Berater zu Fragen der Reisesicherheit in der Sahara. Bis zur Militärintervention von 2013 führte er für österreichische und deutsche Reiseveranstalter Trekking-Touren in die Zentralsahara.

 

Weiterführende Quellen:

 

Schagl, L. (2021). Die Zerstörung des UNESCO-Kulturerbes von Timbuktu durch dschihadistische Milizen im Jahr 2012 aus einer Multi-Stakeholder-Perspektive. Bachelor-Arbeit, verfasst an der FH JOANNEUM, Gesundheitsmanagement im Tourismus, Bad Gleichenberg.

Friedl, H. A. (2005). Touristen-Entführungen in der Sahara – brutales Ende einer kurzen Renaissance des Sahara-Tourismus oder Symptom einer Dauerkrise im Dritte-Welt-Tourismus?, in: Pechlaner, H. & Glaeßer, D. (Hg.): Risiko und Gefahr im Tourismus. Erfolgreicher Umgang mit Krisen und Strukturbrüchen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 115-130.

Friedl, H. A. (2008a). Und ewig zieht die Karawane ... Kulturtourismus als Instrument zur Förderung der Tuareg-Kultur in der Region Agadez? In: Kurt Luger, Karlheinz Wöhler (Eds.): Welterbe und Tourismus – World Heritage and Tourism. Schützen und Nützen aus einer Perspektive der Nachhaltigkeit. Innsbruck: Studien-Verlag, S. 407-424. https://www.academia.edu/8504752/Und_ewig_zieht_die_Karawane_Kulturtourismus_als_Instrument_zur_F%C3%B6rderung_der_Tuareg_Kultur_in_der_Region_Agadez

Friedl, H. A. (2008b). Kulturschock Tuareg. Bielefeld: Reise Know-how Verlag. https://www.academia.edu/82617011/Kultur_Schock_Tuareg

Friedl, H. A. (2009a). Onkel Sam in der Wüste. Energie-Kolonialismus und die Folgen für den unbeschwerten Sahara-Urlaub. In: schreibkraft Nr. 18, S. 14-19. https://www.academia.edu/82617642/Onkel_Sam_in_der_W%C3%BCste_Energie_Kolonialismus_und_die_Folgen_f%C3%BCr_den_unbeschwerten_Sahara_Urlaub

Friedl, H. A. (2009b). Reisen zu den Wüstenrittern. Ethno-Tourismus bei den Tuareg aus Sicht der angewandten Tourismus-Ethik. Nordhausen: Traugott Bautz Verlag. https://www.academia.edu/82617071/Reisen_zu_den_W%C3%BCstenrittern_Ethno_Tourismus_bei_den_Tuareg_aus_Sicht_der_angewandten_Tourismus_Ethik

Friedl, H. A. (2010). Freiheit – Limitation: Peak Oil und Anti-Terror-Krieg. In: Egger, R. & Herdin, T. (Hg.): Tourismus im Spannungsfeld von Polaritäten. In FHS Forschungsgesellschaft mbH (Reihe Hg.), Wissenschaftliche Schriftenreihe der FHS-Forschungsgesellschaft (Band 2). Wien: Lit Verlag, S. 275-292. https://www.academia.edu/82618170/Freiheit_Limitation_Peak_Oil_und_Anti_Terror_Krieg

 


 

Tourismus und Bürgerkrieg im Jemen. Eine Analyse von friedensstärkenden Maßnahmen in einem zerrütteten Land

Im Jemen tobt seit Jahren ein Bürgerkrieg. In diesem Land mit beeindruckenden Landschaften und UNESCO-Welterbestätten blühte bis in die 2000er-Jahre der Tourismus. Lukas Schagl beforschte die Frage, ob und wie Tourismus diesen Krieg hätte verhindern können.

von HARALD A. FRIEDL

sanaa
Die Altstadt Sanaa, Unesco-Weltkulturerbe, vor dem Bürgerkrieg (Foto: Harald A. Friedl)

Der Jemen, im Süden von Saudi-Arabien am Roten Meer und am Indischen Ozean gelegen, war für Jahrhunderte aufgrund des Karawanenhandels mit Weihrauch und ab dem 18. Jahrhundert mit Kaffee ein kulturell blühendes Land. Hier finden sich berühmte und sagenhaft anmutende Stätten wie die Wohntürme von Sanaa, karge Dörfer wie Adlerhorste im nördlichen Bergjemen oder das „Manhattan der Wüste“, Schibam, im östlich gelegenen Wadi Hadramaut. Diese Vielfalt an kulturellen und landschaftlichen Attraktionen hatte schon früh zu einer bedeutenden Tourismusentwicklung beigetragen.

Schibam
UNESCO-Weltkulturerbe Schibam, das "Manhattan der Wüste" im östlich gelegenen Wadi Hadramaut (Foto: Harald A. Friedl)

Dabei war die Hauptstadt Sanaa stets Ausgangspunkt für Rundreisen in Allrad-Fahrzeugen. Diese touristische Entwicklung wurde zu Beginn der 1990er-Jahre durch den ersten Bürgerkrieg zwischen dem Nord- und dem Südjemen unterbrochen. Die beiden Regionen hatten eine unterschiedliche koloniale Geschichte und hatten im Zuge der Dekolonialisierung zwei unabhängige Staaten hervorgebracht. Zwar fanden die zwei Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges zusammen, doch führten Konflikte über die Verteilung der wichtigsten ökonomischen Quelle des Landes, Erdöl, zu jenem kurzen Bürgerkrieg, aus dem die dominanten Kräfte des Nordjemen siegreich hervorgingen.

Touristen im Jemen
Eine Reisegruppe beim Mittagessen wird aufgrund des allgemeinen Alkoholverbots mit alkoholfreiem Bier versorgt (Foto: Harald A. Friedl)

Die Phase der relativen politischen Stabilität seit 1994 führte zu einem regelrechten Tourismusboom, von dem jedoch wiederum hauptsächlich die Hauptstadt Sanaa und deren Einzugsgebiet sowie einige wenige Attraktionen im Osten profitierten. Dabei kam es wiederholt zu Entführungen von einzelnen Reisegruppen durch Stammesangehörige aus dem Norden. Dahinter stand das Motiv, für ihre wirtschaftlich, sozial und politisch benachteiligte Region von der Zentralregierung finanzielle Unterstützung zu erzwingen.

WAffen im Jemen
Bewaffnung spielt im Jemen seit jeher eine wichtige Rolle für das männliche Selbstverständnis: traditionelle Schusswaffen in einem Museum im Wadi Hadramaut (Foto: Harald A. Friedl)

Die Konflikte zwischen der Zentralregierung in Sanaa und den benachteiligten Bevölkerungsgruppen mündeten im Zuge des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 in heftige Proteste, die zum Rücktritt des Langzeit-Diktators Ali Abdallah Salih führten. Eine zentrale Rolle spielten dabei schiitischen Huthi-Rebellen aus den Nordregionen, die, militärisch durch den Iran unterstützt, im Jahr 2014 in Sanaa einmarschierten. Daraufhin eskalierte ein neuerlicher Bürgerkrieg, und der Tourismus erstarb.

Frau im Jemen
Frauenleben im streng muslimischen Jemen bedeutet harte körperliche Arbeit im Verborgenen, etwa die Versorgung mit Wasser aus einer Gemeindezisterne (Foto: Harald A. Friedl)

Vor diesem Hintergrund stellte sich der junge Tourismusforscher Lukas Schagl im Rahmen seiner Abschlussarbeit die Frage, welchen Beitrag Tourismus hätte leisten können, um eine Eskalation des Bürgerkrieges zu verhindern. Für die Beantwortung seiner Forschungsfrage bediente sich Schagl der Quellen aus internationalen Datenbanken mit politikwissenschaftlichem Schwerpunkt sowie aus renommierten politischen Zeitschriften.

Jemen
Lehm-Moschee im Wadi Hadramaut im Osten des Jemen (Foto: Harald A. Friedl)

Schagls Forschungen verdeutlichten, dass die historische Entwicklung des Jemen seit jeher äußerst vielschichtig und somit von unterschiedlichen, widerstreitenden Interessenslagen geprägt war. Dabei ließ sich ein Schema der Ausübung und zunehmenden Konzentration von Macht identifizieren, wie es in Ländern mit wenigen bedeutsamen Ressourcen häufig anzutreffen sei. Demnach wurden im Jemen die verfügbaren Quellen des ökonomischen Wachstums, ob der Export von Öl oder die Einnahmen aus Tourismus, durch die politischen Kräfte in Sanaa konsequent kontrolliert und zur Vertiefung dieser Machtposition genutzt. Im Gegenzug wurden Gruppen, die als politisch unwichtig oder oppositionell galten, aus dieser ökonomischen Entwicklung weitgehend ausgeschlossen. Die bereits genannten, wiederholten Entführungen von Reisegruppen lassen sich dabei als Versuch jener benachteiligten Gruppierungen interpretieren, diese weitgehende sozio-ökonomische Isolation zu durchbrechen.

Jemen
Wo in armen Ländern Tourist*innen aufkreuzen, finden sich rasch Kinder, um sich "etwas zu holen" (Foto: Harald A. Friedl)

Im Ergebnis kam Schagl zum Schluss, dass Tourismus im Jemen bestenfalls das Potenzial hatte, auf lokaler oder regionaler Ebene zu Armutsminderung und bescheidener ökonomischer Dynamisierung beizutragen, wenn auch zum Preis einer zunehmenden Abhängigkeit. Dieser Preis musste mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs teuer mit dem plötzlichen Verlust dieser Einkommensquelle bezahlt werden. Auf überregionaler Ebene hingegen widersprach diese Form des exklusiv kontrollierten Tourismus fundamental dem Nachhaltigkeitsprinzip der ökonomischen und politischen Partizipation (Schagl 2022). Aufgrund dieser Rahmenbedingungen lässt sich die Geschichte des Tourismus im Jemen nahezu als ein Schulbeispiel für das Gegenteil einer „nachhaltigen Tourismusentwicklung“ interpretieren, nämlich als Konfliktverschärfer.

Zum Autor:

HARALD A. FRIEDL ist Professor für Ethik und Nachhaltigkeit im Tourismus am Institut für „Gesundheit und Tourismus Management“ an der FH JOANNEUM in Bad Gleichenberg. Er war der wissenschaftliche Betreuer der vorgestellten Arbeit. Zwischen 1997 und 2007 hatte Friedl im Zuge seiner Reiseleitungen den gesamten Jemen mit Ausnahme der nördlichen Regionen an der Grenze zu Saudi-Arabien besucht. Diese galten schon damals aufgrund „fundamentalistischer Stämme“ als äußerst gefährlich für westliche Reisende. Darum waren auch die von Friedl geführten Reisegruppen von der kurzfristigen Absage von planmäßigen Besuchen dort gelegener Kulturstätten betroffen – stets mit dem Hinweis auf „kriminelle Stammesaktivitäten“. Dabei entging Friedls Gruppe nur um wenige Stunden der Entführung einer nachfolgenden Reisegruppe.

Quellen:

Schagl, Lukas (2022). Tourismus und Bürgerkrieg im Jemen: Eine Analyse von friedensstärkenden Maßnahmen in einem kriegsgeschüttelten Land. Bachelor-Arbeit am Studiengang Gesundheitsmanagement im Tourismus, FH JOANNEUM, Bad Gleichenberg.

 


 

Srebrenica – City of Hope

Mit nachhaltigem Tourismus die Gräben des Krieges überwinden und neue Perspektiven schaffen

von CORNELIA KÜHHAS

Srebernica
Foto: Jacqueline Sitner


 
Srebrenica – die Stadt hat im Bosnien-Krieg (1992–1995) traurige Berühmtheit erlangt: Am 11. Juli 1995 wurden 8.329 Bosnische Muslime ermordet. Vor dem Bürgerkrieg war Srebrenica ein bekannter Kurort, eingebettet in eine pittoreske Naturlandschaft, der von Gästen aus aller Welt besucht wurde. Davon ist nichts mehr geblieben, die Region leidet noch immer unter den Kriegsfolgen, die Zerstörung durch den Krieg ist allgegenwärtig, die wirtschaftliche Situation entsprechend angespannt. Mit sanftem Natur- und Kulturtourismus wollen die Bosnischen Naturfreunde – Priratelji Prirode ­Oaza Mira – die Region wiederbeleben.
 
Ein „Kind des Krieges“ kehrt zurück    

Den Grundstein dafür legte Irvin Mujčić. Er selbst musste als Kind mit seiner Mutter vor dem Krieg nach Italien flüchten. 2014 kehrte er im Rahmen eines europäischen Erinnerungsprojektes, bei dem der Genozid an Sinti und Roma während des Zweiten Weltkrieges gedacht wurde, in seine Heimat zurück. Mujčić: „Ich konnte vor dem Krieg fliehen und habe ihn überlebt – das ist mein Privileg! Ich möchte meiner Heimat etwas zurückgeben und meine gute Ausbildung nützen, um hier in Srebrenica etwas Neues aufzubauen.“

irvin Mujcic
Irvin Mujčić (Foto: privat)


 Ein zerstörtes Land und zerstörte Seelen

Die Schäden des Krieges waren auch 2014 – fast 20 Jahre nach Kriegsende – noch immer deutlich sicht- und spürbar. Vor dem Krieg lebten 37.000 Menschen in der Region, heute sind es knapp 5.000, Irvin Mujčićs Heimatdorf etwa ist von 250 auf fünf Einwohner*innen geschrumpft. „Wir haben ein völlig zerstörtes Land geerbt – nicht nur in Bezug auf die Infrastruktur, sondern auch in spiritueller und mentaler Hinsicht; der Krieg ist noch in den Köpfen und Seelen der Menschen präsent.“

Sarajewo
Kriegsschäden in Sarajewo (Foto: Harald A. Friedl)

Irvin Mujčić vermisst Anstrengungen seitens der Politik, den Krieg aufzuarbeiten und einen Versöhnungsprozess anzustoßen. In Italien, wohin er geflüchtet war, hat er die Naturfreunde-Bewegung kennengelernt, die sich seit 1895 für Natur- und Umweltschutz, internationalen Austausch, Solidarität und Frieden in der Welt engagiert. Dieses internationale Netzwerk möchte er nutzen, um in seiner Heimat neue Perspektiven für die Menschen zu schaffen. Er gründete die lokale Naturfreunde-Gruppe „Prijatelji Prirode Oaza Mira“: „Der Fokus unserer NGO liegt im Wiederaufbau unseres Landes, angefangen bei der Infrastruktur bis hin zur Annäherung und Versöhnung der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen.“
 
Community Based Tourism als Weg in eine gute Zukunft

Und dabei setzt „Priratelji Prirode Oaza Mira“ auf Community Based Tourism (gemeindebasierten Tourismus), der die Naturschönheiten, die Traditionen der Region und den kulturellen Austausch in den Mittelpunkt der Aktivitäten stellt. In den Jahren nach dem Krieg verschlug es nur wenige Tourist*innen nach Srebrenica – die meisten von ihnen besuchten das Kriegsmahnmal, verweilten aber nicht länger in der Region. Das möchten die Naturfreunde ändern. Irvin Mujčić: „Die Welt soll wieder ein positives Bild von unserer Heimat bekommen.“

Wanderung Drina
Tourist*innen bei einer Wanderung entlang der Drina-Schlucht (Foto: Irvin Mujčić)


Wanderrouten, die verbinden

Das Gebiet ist mit seinen intakten Naturlandschaften, Wäldern, Höhlen und insbesondere der beeindruckenden Drina-Schlucht für einen Wander- und Trekkingtourismus sehr attraktiv. In Kooperation mit den Naturfreunden Italien wurden Trekking- und Wanderrouten entwickelt bzw. wiederbelebt, die mehrere Dörfer verbinden. Dafür ist es gelungen, die Dorfbewohner*innen von bislang fünf Dörfern zu gewinnen, die sich tatkräftig an der Umsetzung beteiligen. So haben die Tourist*innen nun die Möglichkeit, von einem Dorf zum nächsten zu wandern, bei Gastfamilien in den Dörfern zu übernachten, an ihren Mahlzeiten teilzunehmen, lokale Veranstaltungen und Feste zu besuchen und so einen Einblick in die Kultur und Lebensweise der Einheimischen zu gewinnen.

Kulturaustausch
Ein gemeinsames Essen nach bogomilischer Tradition (Foto: Irvin Mujčić)

 

Srebernica
Eine Dorfbewohnerin serviert ein traditionelles Getränk (Foto: Irvin Mujčić)


Achtung Minen!

Die Planung von Wanderrouten im ehemaligen Kriegsgebiet ist allerdings eine Herausforderung – Stichwort militärische Sprengminen, die vom Krieg übriggeblieben sind. Mit diesem Thema hat sich Michaela Niedermayr (FH Joanneum Bad Gleichenberg, Studiengang Gesundheitsmanagement im Tourismus) 2016 in ihrer Masterarbeit „Konzeptionierung einer Kultur- und Abenteuertrekkingtour in Bosnien-Herzegowina“ auseinandergesetzt. Sie kommt – u.a. im Zuge von Interviews mit Minen-Spezialisten des österreichischen Bundesheeres – zum Schluss, dass aufgrund der zahlreichen Sprengminen das enorme Potenzial des Trekkingtourismus in der Region derzeit nicht umsetzbar ist. Durch Starkregen oder Muren werden Minen verfrachtet und stellen damit auch auf gängigen Wanderrouten eine Gefahr dar. „Sich abseits der gängigen Routen zu bewegen … kann sogar tödlich enden. Nur Wandern auf befestigten Straßen, mit ortskundigen Führern ist gegenwärtig zu verantworten, wobei auch hierbei keine Sicherheitsgarantie gegeben ist.“ Niedermayr verweist in ihrer Arbeit auch darauf, dass neben der Minenproblematik ein ineffizientes Rettungssystem vor Ort, das der politischen Instabilität und den komplexen Strukturen des Staates geschuldet ist, die Sicherheit der Tourist*innen gefährden könnte.
 
Der Gefahr durch Sprengminen ist sich natürlich auch Irvin Mujčić bewusst. In der Region Srebrenica wurden Landminen rund um das Gebiet, das unter Kontrolle der bosnischen Armee war, ausgelegt. Viele dieser Minenfelder seien bereits gesäubert, noch bestehende markiert, so Mujčić. „Nachdem ich mich intensiv mit dieser Frage beschäftigt habe und die Gegend wie meine Westentasche kenne, ist es mir gut gelungen, die Wanderwege so auszuwählen und zu führen, dass Minenfelder weiträumig umgangen werden und für die Wander*innen auf den ausgewiesenen Wegen keine Gefahr besteht.“

Kutschenfahrt
Die Winterlandschaft in der Pferdekutsche genießen (Foto: Irvin Mujčić)


 Traditionen als Grundstein für wirtschaftlichen Aufschwung und Völkerverständigung

Bei ihren touristischen Projekten halten Irvin Mujčić und sein Team die Traditionen hoch: „Hier in Bosnien-Herzegowina ist die Bogomilen-Kultur etwas Besonderes.“ Die Bogomilen sind eine christliche Religionsgemeinschaft. Die Bewegung entstand in Bulgarien und verbreitete sich zwischen dem 10. und 15. Jahrhundert auf der Balkanhalbinsel. Als die Osmanen die Region erreichten, konvertierten die meisten Bogomilen aus wirtschaftlichen Gründen zum Islam, ein Großteil ihrer Kultur geriet in Vergessenheit. „Doch die Offenherzigkeit und Gutmütigkeit der Menschen ist geblieben“, meint Irvin Mujčić, der mit seinen Projekten diese alte Kultur wiederbeleben will. So wird unter dem Motto „Die Zeit der Bogomilen“ das zerstörte Dorf Kasapic – 13 Kilometer außerhalb Srebrenicas am Fuße des Kak-Gebirges gelegen – im traditionellen Baustil als Feriendorf wieder aufgebaut. Eine alte Wassermühle, die früher Mehl produziert hat, wird reaktiviert, um das Dorf mit Ökostrom zu versorgen.

Sadvran
Ein traditionelles Sadvran wird gebaut (Foto: Irvin Mujčić)

Im Jahr vor der Corona-Pandemie besuchten rund 4.000 Gäste die Region, 95% von ihnen kamen von außerhalb Bosnien-Herzegowinas. Dann brachen auch hier die Besucher*innenzahlen ein. „Das erste Pandemiejahr ohne Gäste zu überstehen, war für uns als NGO eine große Herausforderung. Aber wir haben die Zeit genutzt, um unser Feriendorf aufzubauen“, so Irvin Mujčić. In diesem Jahr freuen sich die bosnischen Naturfreunde wieder über zahlreiche Besucher*innen aus aller Welt.

 

Zur Autorin:

CORNELIA KÜHHAS ist Expertin für Nachhaltige Tourismusentwicklung und Entwicklungszusammenarbeit bei respect_NFI.

Quellen:

Niedermayr, Michaela (2016). Konzeptionierung einer Kultur- und Abenteuertrekkingtour in Bosnien-Herzegowina. Master-Arbeit am Studiengang Gesundheitsmanagement im Tourismus, FH JOANNEUM, Bad Gleichenberg. Download der Arbeit
 
Weiterführende Links:
 
Virtuelle Reise – 30 Tage um die Welt, Station 3: Bosnien & Herzegowina: https://tourismlog.respect.at/bosnien-herzegowina-nachhaltiger-tourismus-uberwindet-die-graben-des-krieges-und-schafft-neue-perspektiven/
 
Srebrenica – City of Hope auf Facebook: https://de-de.facebook.com/srebrenicahope/
 
Interview mit Irvin Mujčić (2021): https://www.nf-int.org/ueber-uns/naturfreundinnen-im-gespraech#mujcic
 
 


 

Durch Nachhaltigkeit aus den Konflikten … oder Bürgerkrieg durch forcierte Nachhaltigkeit?

Ob durch schwindende Naturressourcen oder aber durch tiefgreifende Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen: In jedem Fall steigt das Potenzial von Konflikten auf lokaler wie auch globaler Ebene – aufgrund der engen Vernetztheit unserer hoch globalisierten Welt – zwischen jenen, die Lebensstile erhalten wollen, und jenen, die Lebenschancen zu bewahren versuchen …

von HARALD A. FRIEDL

Halllstatt
Foto: Lisa Schopper

Als der neu gewählte französische Präsident vor vier Jahren ambitioniert Reformen in Richtung Energiewende angehen und eine Umweltsteuer auf fossile Energieträger einführen wollte, demonstrierten auf den Straßen monatelang die „Gelbwesten“. Zum Teil sogar mit Gewalt wehrten sich die Menschen gegen als soziale Benachteiligung empfundene Treibstoffpreiserhöhungen sowie gegen die als herrschaftlich wirkende Vorgehensweise des Präsidenten.

An diese „Gelbwesten“ erinnerten die jüngsten Unruhen auf den Straßen der Niederlande: Ein Heer von Traktoren blockierte den Verkehr, vor dem Haus der Umweltministerin wurde Gülle entleert, Heuballen in Brand gesetzt, Politiker*innen bedroht. Auslöser war ein höchstgerichtliches Urteil, das eine große Zahl von bäuerlichen Betrieben in ökologisch sensiblen Zonen dazu zwingt, den Einsatz von Kunstdünger massiv zu reduzieren. Hintergrund ist die jahrelange Missachtung von gesetzlichen Stickstoff-Emissionsgrenzen in der niederländischen Landwirtschaft, was u.a. als Ursache für Atemwegserkrankungen in den betroffenen Regionen gilt. Für zahlreiche intensiv wirtschaftende Betriebe bedeutet dies entweder den Umstieg auf Biolandbau – oder eine Aufgabe des Betriebs …

Auch auf der „Insel der Seligen“ hier in Österreich sind uns seit dem vergangenen Herbst solche erschreckenden Szenen nicht mehr fremd, als auf wütende Weise gegen die „Freiheitsberaubung“ durch COVID-Schutzmaßnahmen protestiert wurde. Auch damals gingen „Kritiker*innen“ in den sozialen Medien so weit, Politiker*innen tätlich zu bedrohen. In jedem Fall gingen diese Konflikte quer durch alle Gesellschaftsschichten und ließen so manche Freundschaft zerbrechen.

Landschaft
Sich eine heile Urlaubswelt wünschen, aber Wegwerfflaschen kaufen … (Foto: Harald A. Friedl)

Noch gingen die Demonstranten auf Europas Boden nicht so weit, wie Trump-Anhänger*innen zentrale demokratische Institutionen zu stürmen. Was aber deutlich wurde: Wird spürbar an der Brieftasche geknabbert oder die persönliche Komfortzone beeinträchtigt, zeigt sich unweigerlich: „Die Haut der Zivilisation ist dünn.“ (Sigmund Freud) Dann gehen die Emotionen hoch, und der Schritt zur Gewalt ist nicht mehr groß.

Dies wirft angesichts der dringend nötigen Transformation des Tourismus in Richtung Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit grundlegende, zutiefst widersprüchliche Fragen auf:

  • Wie soll diese ökologische Transformation sozial ausgewogen gelingen, definiert sich doch Nachhaltigkeit auch über die Aufrechterhaltung einer dauerhaften sozialen und ökonomischen Balance?
  • Und wie soll eine solche dauerhafte soziale und ökonomische Balance erreicht werden, wenn gegenwärtig besonders in den Industrieländern immer mehr Menschen auf Kosten zukünftiger Generationen immer mehr verbrauchen, somit völlig unnachhaltig leben und reisen?
  • Wie soll diese Transformation auf gewaltfreie Weise gelingen, wenn kein Weg an der Umverteilung eines nicht mehr „wachsenden Kuchens“ vorbeiführt, Nachhaltigkeit aber mit Gewalt unvereinbar sei?

Hier auf Vernunft und freien Willen von energieintensiv konsumierenden Menschen zu hoffen, wäre aus sozialpsychologischer und verhaltensbiologischer Perspektive Ausdruck von gefährlicher Naivität (Friedl 2018; Friedl 2021). Doch nicht nur in theoretischer Hinsicht wurden hier an der FH JOANNEUM Überlegungen angestellt. Die Diskrepanzen zwischen hehren Absichten und konkretem, wenig nachhaltigem Tun wie auch daraus resultierenden Konfliktpotenzialen stehen wiederholt im Fokus der Forschung. So konnte Laurenz Mörth vom Institut für „Management internationaler Geschäftsbeziehungen“ unter Studierenden eine ausgeprägt wohlwollende bis unterstützende Haltung gegenüber „Fridays for Future“ nachweisen. Doch dieselben Studierenden, die sogar von ihrer Regierung ein schärferes Eintreten für Klimaschutz forderten, freuten sich im selben Atemzug auf ihren nächsten Flug in den Urlaub (Mörth 2021, Mörth & Friedl 2021). Zu analogen Ergebnissen kam auch die Studie von Macher und Friedl (2021).

Urlaub
Modernes Leben als sonniges Freizeitprogramm, das möglichst lustig, billig und stets verfügbar sein sollte … (Foto: Harald A. Friedl)

Was hier als Widerspruch zwischen Reden und Tun erscheint, konnte Macher in ihrer Studie (2021) als Ausdruck der verhaltenskonstitutiven Wirkung von Peergroups nachweisen. Relevant für konkretes Handeln – und damit für die Chance auf Verhaltensänderung in Richtung mehr Nachhaltigkeit – ist das emotional relevante Bezugssystem. So hatte Macher Personen befragt, die ihren Lebensstil bewusst in Richtung Nachhaltigkeit veränderten und dabei gezielt auf symbolischen Konsum verzichteten. Dieser persönliche Change-Prozess ging fast immer mit einer Veränderung der Beziehungen zu ihren Familien sowie mit einer Veränderung des Freundeskreises einher. Eine Probandin etwa berichtete, dass ihr nachdrücklicher Wunsch nach klimaschonenden Mitteln der Anreise zum Urlaubsort und somit nach dem Verzicht auf eine Flugreise auf massives Unverständnis und sogar zum Bruch einer Freundschaft führte …

Auto
Produkte wie teure Autos oder schicke Fernreisen sind energieintensiv, darum teuer und somit nicht für „jede*n“ erreichbar – und darum Ausdruck von Identität und Gruppenzugehörigkeit (Foto: Harald A. Friedl)

Erklären lassen sich derart starke emotionale Reaktionen durch die identitätsstiftende Wirkung von symbolischen Konsumgütern. Produkte wie Fernreisen, SUVs oder Steaks sind energieintensiv, darum teuer und somit nicht für „jede*n“ erreichbar. Man muss sich dergleichen erst „leisten“ können. Ihr Konsum repräsentiert somit erfolgreichen sozialen Aufstieg und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht. Darum werden Beeinträchtigungen wie die Aufforderungen zum bewussten Verzicht auf solche Güter oder wie massiv gestiegene Kosten als Bedrohung des Selbstwertgefühls oder gar als Angriff auf die persönliche Integrität verstanden. Im Kampf gegen solche „Enteignungen“ sind Menschen bereit, auf die Straße zu gehen oder sogar zu radikaleren Mitteln zu greifen: Es geht aus der Sicht der Betroffenen ums „Ganze“, um ihre „Existenz“.

Friday for Future
Noch geht die zukünftige Generation im Kampf um ihre Zukunft nur auf die Straße (Foto: Harald A. Friedl)

Oberflächlich betrachtet mag dies widersprüchlich, ja geradezu grotesk erscheinen, wenn Menschen schöne Naturlandschaften als Urlaubziele wählen, aber Wasser in Wegwerfflaschen trinken. Sie klagen über die mörderische Hitze … und flüchten in den gekühlten SUV. Sie wollen totale Bewegungsfreiheit – und somit im Fall einer COVID-Infektion eine bereitstehende Intensivstation … Doch ist dieser scheinbare Widerspruch Ausdruck einer jahrzehntelang zelebrierten Kultur des modernen Lebens als sonniges Freizeitprogramm, das möglichst lustig, billig und stets verfügbar zu sein habe. Dafür zu „sorgen“ galt als die Aufgabe der gewählten Politiker*innen. Finanziert wurde dieses Leben hinter der schönen Fassade auch durch die Abwälzung von Kosten auf sozial Schwache, auf einstige Kolonialstaaten und auf zukünftige Generationen. Was aber wird passieren, wenn diese Generationen sich zu wehren beginnen und nicht mehr nur am Freitag demonstrieren?

Zum Autor:

HARALD A. FRIEDL ist Professor für Nachhaltigkeit und Ethik im Tourismus an der FH JOANNEUM, Institut für Gesundheit und Tourismusmanagement in Bad Gleichenberg, und zudem interkultureller Trainer der Internationalen Friedenstruppen des Österreichischen Bundesheeres.

Quellen:

Friedl, H. A. (2018). Grüne Transition als Weihnachtswunder. Warum der Glaube an den Wandel dennoch neurobiologisch wirkt. Green Care 4/2018, 3-5. https://www.academia.edu/82534118/Gr%C3%BCne_Transition_als_Weihnachtswunder_Warum_der_Glaube_an_den_Wandel_dennoch_neurobiologisch_wirkt

Friedl, H. A. (2021). Green Transition to Sustainable (Tourism) Development, an Indispensable Program or an Impossible Utopia? A critical Discourse. In: TOURIST Consortium 2020 (Ed.), 3rd TOURIST Conference on Sustainable Tourism: Building Resilience in Uncertain Times (Conference Proceedings, S. 37-58). Kasetsart University, February 3 – 4.2021 in Bangkok, Thailand. https://www.academia.edu/82534053/Green_Transition_to_Sustainable_Tourism_Development_an_Indispensable_Program_or_an_Impossible_Utopia_A_critical_Discourse

Macher, S. & Friedl, H.A. (2021). COVID-19 as a Catalyst in Education for Sustainable Tourism Development: How do students in the field of tourism plan to live and travel sustainably in future? In: TOURIST Consortium 2020 (Ed.), 3rd TOURIST Conference on Sustainable Tourism: Building Resilience in Uncertain Times (Conference Proceedings). Kasetsart University, February 3 – 4.2021 in Bangkok, Thailand. https://www.academia.edu/82534667/COVID_19_as_a_Catalyst_in_Education_for_Sustainable_Tourism_Development_How_do_students_in_the_field_of_tourism_plan_to_live_and_travel_sustainably_in_future

Macher, Sandra (2020): „Auswirkungen des klimaschonenden Lebensstils auf das jeweilige soziale und wirtschaftliche Leben. Eine Lebensstil-Grundlagenforschung.“ FH JOANNEUM. https://info.bmlrt.gv.at/dam/jcr:3f30f521-9655-437d-a7c9-ff62e2fe6942/Macher_2020_SDG13.pdf

Mörth, L. & Friedl, H. A. (2021). Plant GenZ nach Corona klimafreundlichere Reisen? Tourismus Wissen quarterly 26. https://www.academia.edu/82534158/Mo_rth_and_Friedl_2021_Plant_die_GenZ_nach_Corona_klimafreundliche_Reisen

Mörth, Laurenz (2021): „Auswirkungen von Reisebeschränkungen in Folge von Covid-19 auf die Reisebedürfnisse von Studierenden: Chance für nachhaltigen Tourismus?“ FH JOANNEUM. (Reisebedürfnisse, Reiseverhalten, Klimawandel, Fridays for Future, Covid-19) https://info.bmlrt.gv.at/dam/jcr:6312c65a-37ab-4e95-add2-b3aca1e1e7aa/M%C3%B6rth_2021_SDG12.pdf
 


 

Tourismus – Friedensbringer oder Kriegstreiber?

Ein Diskurs zwischen HARALD A. FRIEDL, SABRINA HAASE und CORNELIA KÜHHAS

Touristen in Wüste
Foto: Harald A. Friedl

Cornelia Kühhas: „Tourism is the main bridge for building understanding. It has a unique ability to promote peace between and among peoples everywhere”, so lautet eine Stellungnahme der UNWTO anlässlich des Kriegs in der Ukraine. Grundsätzlich würde ich dem zustimmen; ich denke schon, dass Tourismus zur Friedenssicherung beitragen kann. Konflikte werden etwa geschürt durch unterschiedliche Weltanschauungen, soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, Armut u.ä.m. Ein Tourismus, der ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltig ist und der Wertschätzung, Authentizität und ein partnerschaftliches Miteinander von Gästen und der Bevölkerung in den Fokus stellt, kann einen Beitrag leisten, diese Gräben zuzuschütten und verhärtete Fronten aufzuweichen. Und Tourismus kann hier auf unterschiedlichen Ebenen Einfluss nehmen …

Die Basis einer nachhaltigen Tourismusentwicklung ist, alle Akteur*innen in einen Dialog zu bringen, unterschiedliche Interessen zusammenzubringen und gemeinsam Tourismuskonzepte zu erarbeiten. Nachhaltiger Tourismus schafft zudem die Basis für eine wirtschaftlich nachhaltige Verbesserung der Destination, vermindert Armut – und verringert damit im Idealfall soziale Ungerechtigkeiten und damit verbundene Spannungen.
 
Harald A. Friedl: Ich übernehme jetzt die Rolle des Advocatus diaboli. Natürlich ist Dir, liebe Cornelia, zuzustimmen, solange … all diese Bedingungen erfüllt werden, die an der Utopie einer nachhaltigen Tourismusentwicklung anknüpfen. Wenn wir jedoch die Geschichte der Tourismusentwicklung ansehen, kommen wir nicht umhin, Tourismus als eine häufig benutzte Speerspitze der rücksichtslosen Bereicherung durch Ausbeutung unterlegener „Bereister“ zu identifizieren. Auch wenn wir uns die verbreitete Tourismuskultur vor Augen führen, die wesentlich als Maximierung des mobilen Konsums beworben wird, koste es, was es wolle, so muss ich doch Einspruch erheben. Ein solcher Heuschrecken-Tourismus weist überragende Elemente auf, welche die Lebensgrundlagen von „Bereisten” bedrohen und damit Konflikte in den Zielgebieten fördern können.

Als besonders widersprüchlich empfinde ich solche Fälle, wo im Namen des Naturschutzes Indigene vertrieben werden, nach dem Schema: Welchen Wert hat schon ein Mensch, wenn es um den Schutz eines „edlen“ Tigers oder eines „seltenen“ Elefanten etc. geht. Dahinter steht häufig das Interesse am Erhalt von „Attraktionen” für zahlungskräftige Tourist*innen auf Kosten der Rechte indigener Anrainer*innen, wie „Survival International“ (https://www.wissenschaft.de/gesellschaft-psychologie/vertreibung-im-namen-von-naturschutz/) berichtete. Diese Vorgehensweise konterkariert eine nachhaltige, friedensförderliche Entwicklung unter ausbalancierter Berücksichtigung aller Stakeholder-Interessen. Zusammenfassend würde ich darum die These von Cornelia umformulieren und zuspitzen: Nur wenn die Prinzipien einer Nachhaltigen Tourismusentwicklung berücksichtigt werden, kann Tourismus einen wertvollen Beitrag zu sozialer Stabilisierung und damit zur Friedensförderung leisten.

Hier ginge ich fast so weit zu behaupten: Nachhaltige Tourismusentwicklung ist Friedensförderungsarbeit per se, eben weil im Konzept der Nachhaltigen Tourismusentwicklung der hochkonzentrierte Fokus von der maximalen Befriedigung des Reisekunden gegen Entlohnung des Unternehmens auf die ausgewogene Berücksichtigung aller betroffenen Stakeholdergruppen verschoben wird.

Sabrina Haase: Um die Aussage von Cornelia aufzugreifen, wonach nachhaltiger Tourismus zudem die Basis für eine wirtschaftlich nachhaltige Verbesserung der Destination schafft, Armut vermindert – und damit im Idealfall soziale Ungerechtigkeiten und damit verbundene Spannungen verringert: Dem stimme ich voll zu, allerdings sollte man trotzdem immer darauf achten, wohin die Reise geht. In autokratisch geführten Ländern ist es immer schwierig, zu überprüfen, wohin mein Geld wirklich fließt. In Syrien beispielsweise ist es kaum möglich eine Reise zu organisieren, ohne dass das Geld an das Assad-Regime geht. Damit unterstützt man leider mehr die Regierung und nicht die lokale Bevölkerung vor Ort.

Harald A. Friedl: Damit sprichst Du, liebe Sabrina, einen zentralen Punkt in jedem tourismusethischen Diskurs an: Wie viel faktischen Einfluss habe ich in kritischen Reisesituationen überhaupt auf die Folgen meines Handelns? Um Dein gutes Beispiel von Syrien aufzugreifen: Sollte aus dem Umstand, dass ein kriegführendes Regime finanziell durch meine Reise unterstützt wird, die Ablehnung einer solchen Reise abgeleitet werden?

Das halte ich für eine spannende Frage, weil das Problem doch viel komplexer ist: Klar, wenn es darum geht, eine Kulturreise durch ein von Krieg erschüttertes Gebiet durchzuführen, und davon finanziell der Kriegsherr profitiert, ist die Antwort einfach: Finger weg! Ich reiste vor zwei Jahren – vor COVID ­– in Begleitung eines Bischofs nach Pakistan, um dort katholische Schulen zu besuchen und für Projektförderungen zu evaluieren. Seit damals unterstütze ich auch persönlich ein Schulprojekt. Pakistan ist mit Indien im Kriegszustand (Kaschmir). Ich denke, dieser Fall zeigt, dass es wesentlich auf die Frage ankommt, wer auf welche Weise von der Reise profitiert. Zweites Beispiel: Die Türkei führt Krieg gegen Syrien und gegen kurdische Minderheiten. Deswegen einen generellen Reiseboykott gegen die Türkei zu fordern, ginge meiner Ansicht nach zu weit, weil hier viel mehr Einflussfaktoren mitspielen. Eine ökonomisch ausgehungerte Bevölkerung trägt nicht zwingend zur Schwächung eines Regimes bei, oftmals sogar im Gegenteil. Das wird sich etwa im Falle Russlands zeigen.

Cornelia Kühhas: Dem Reisen wird ja zugesprochen, dass es den Horizont erweitert und zur Völkerverständigung beiträgt. Reisen führt aber nicht automatisch zu mehr Verständnis und Toleranz zwischen Gastgeber*innen und Reisenden. Unsere Reisekultur hat durchaus kolonialistische Züge: Die Tourist*innen zahlen für die in Anspruch genommenen Dienstleistungen und die Bevölkerung soll froh sein, dass sie Geld verdient. Im Extremfall – Stichwort „All inclusive“ – sind die Landschaft und die Menschen nur schöne Kulisse, den Gewinn schöpfen ausländische Reiseagenturen und Hotelketten ab.

Und – weil Du, Harald, oben die Vertreibung von Indigenen angesprochen hast – Einheimische werden nicht nur im Namen des Naturschutzes vertrieben und ihrer Rechte beraubt, sondern vielerorts auch, um Platz für Hotelanlagen, Flughäfen und sonstige touristische Infrastruktur zu schaffen; die Menschenrechte werden nicht selten mit Füßen getreten, um touristische Projekte umzusetzen.

Massentourismus lässt kaum Platz für die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und den Menschen vor Ort, das kolonialistische „Ausbeutungsverhalten“ verstärkt Ressentiments und Vorurteile auf beiden Seiten eher als dass es sie abbaut – vielleicht werden dadurch sogar Konflikte verstärkt …

Harald A. Friedl: Auch hier spiele ich mal den Advocatus diaboli: Zunächst sind die meisten urlaubenden Menschen weder Ethnologen noch Philosophen, sondern wollen “einfach Urlaub machen”, also “gute Erlebnisse konsumieren”. Ich halte es für gefährlich (auch wenn ich selbst sogar dazu ein Buch veröffentlicht habe („Respektvoll reisen“, 2005), die Verantwortung auf Individuen abzuwälzen, die oft gar nicht über die notwendigen kulturellen Kompetenzen verfügen, um konstruktive „Völkerverständigung“ zu bewerkstelligen. Hier entzieht sich der Gesetzgeber seiner Regelungsverantwortung, um etwa Reiseveranstalter dazu zu verpflichten Reiseprodukte auf entsprechende Weise zu gestalten.

Um nur ein Beispiel zu bringen: Vor einigen Jahren war die FH JOANNEUM vom „Runden Tisch Ethik im Tourismus“ des damals zuständigen Ministeriums eingeladen worden, eine Markterhebung zum Freiwilligentourismus in Österreich durchzuführen. Im Resultat zeigte sich, dass Reisen zu Kinderheimen ohne jegliche Kontrolle der Reisekund*innen angeboten und durchgeführt werden. Damit wird dem kommerziellen Kindesmissbrauch Tür und Tor geöffnet. Unsere dringende Empfehlung, hier Mindestanforderungen an Reisende zu Kinderheimen gesetzlich zu regeln, wurde damals mit Schulterzucken beantwortet. Hier auf die „Verantwortung des/der Reisekund*in“ zu setzen, erscheint mir fast schon als eine Art Mittäterschaft im Sinne von „die Tat für möglich halten und dies in Kauf zu nehmen“.

Sabrina Haase: Lieber Harald, die Verantwortung kann nicht alleine auf den Reisenden abgewälzt werden. Allerdings sollten sich Reisende wirklich und ernsthaft mit dem Reiseland auseinandersetzen und dabei genau das machen: sich über das Land, die aktuelle Situation, die Lage und die Menschen im Land informieren. Denn einfach „blind” in Länder zu fahren (und dann womöglich auch noch in Regionen, die von Konflikten geprägt sind), ist kontraproduktiv. Selbstverständlich stehen auch hier die Reiseanbieter in der Verantwortung. Sie müssen ihre Gäste vor, während und nach der Reise sensibilisieren und ihnen alle verfügbaren Informationen offenlegen. Gute Informationsquellen sind beispielsweise: Bundesministerien (Auswärtiges Amt, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), NGOs (international und lokal), Berufsverbände, relevante lokale Stakeholder (z.B. Agenturen, bestehende Geschäftskontakte), internationale Organisationen (z.B. Danish Institute for Human Rights), lokale konfliktsensible Fachleute und Ländervertretungen).

Cornelia Kühhas: Sabrina, ich stimme Dir zu, dass Reisende sich mit ihrem Reiseland auseinandersetzen und es so besser kennenlernen sollen (das ist für mich ja auch das Wesen einer Reise) und ich sehe auch die Reiseveranstalter in der Verantwortung. Aber – und hier bin ich bei Harald – ohne entsprechende Rahmenbedingungen sowie ökologische und soziale Mindestanforderungen und Transparenz wird nachhaltiger Tourismus nicht in die Breite kommen, Stichwort Lieferkettengesetz. Mit der Agenda 2030 gibt es ja einen Fahrplan in eine nachhaltige Zukunft unserer Erde, aber nur mit Freiwilligkeit und ohne konkrete Leitlinien werden wir ihre Ziele nicht erreichen. Mein Traum ist, dass nur Reiseangebote am Markt sind, die nachhaltigen Mindeststandards entsprechen.

Harald A. Friedl: Wir sind uns darüber einig, dass der achtsame, verantwortungsbewusste und interessierte Reisende dem reiseethischen Standard entspricht. Mit Deinem Argument, liebe Sabrina, wirfst Du Licht auf eines der großen Streitthemen der Tourismusethik: Die klassische Fragestellung zielt darauf, was „gesollt” sei. Ich gehe jedoch weiter und frage danach, woran die mangelnde Umsetzung des Gesollten – etwa umsichtig informierte und ethisch reflektierte Reiseentscheidungen – scheitert. Jemanden in die Verantwortung zu nehmen, dem es am nötigen Wissen und an nötigen methodischen Kenntnissen (wie Recherche, kritische Würdigung von Information etc.) fehlt, halte ich für wenig hilfreich.

Als einstiger langjähriger Reiseleiter und Lehrer bin ich ein begeisterter Anhänger des Prinzips des Nudgings: Indem anstehende Entscheidungen auf hilfreiche Weise aufbereitet werden, wird daraus ein fruchtbarer Lernprozess. Fazit: Als Experte sehe ich die Verantwortung für komplexe Fragestellungen eher bei mir als bei Menschen, die etwa hart in einer Fabrik arbeiten müssen und sich dann mal etwas „gönnen” wollen, aber nie die Chance und Zeit (wie wir) hatten, sich mit komplexen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Darum stimme ich Cornelia zu: Es braucht zumindest Gesetze zur Förderung von Transparenz, um reiseethisch gute Entscheidungen fördern zu können.

Sabrina Haase: Da stimme ich Euch beiden voll und ganz zu!

Cornelia Kühhas: Meiner Meinung nach kann nur ein nachhaltiger Tourismus einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten. Er ermöglicht Begegnungen und einen Austausch auf Augenhöhe zwischen den Gastgeber*innen und den Besucher*innen. Das Potenzial des Tourismus, einen Beitrag zur Völkerverständigung zu leisten, hängt allerdings stark vom Verhalten der Reisenden selbst ab. Es gilt, den oben erwähnten kolonialistischen Blick abzulegen, offen zu sein, sich aus der Komfortzone zu wagen – und sich vor allem Zeit zu nehmen. Dafür fehlt in unserer schnelllebigen Welt vielfach das Bewusstsein. Zudem will man im Urlaub lieber nicht mit negativen Dingen konfrontiert sein.

Harald A. Friedl: In Anlehnung an das Vorbild der Natur bin ich ein großer Freund der Verführung. Eine Blüte wird nicht bestäubt, indem sie an das moralische Gewissen einer Biene appelliert, sondern indem sie einen süßen Duft verströmt und „Leckerlis“ verspricht. Will ich Menschen dazu bringen, sich aus ihren eingefahrenen Mustern zu bewegen und ihre Sinne für Fremdes zu öffnen, bedeutet dies zunächst den Schmerz der Angst – vor Blamage, vor Orientierungsverlust, vor einem Hinterhalt … Ich lebe in der Südoststeiermark, wo viele Menschen leben, die außer Steirisch keine weitere Fremdsprache beherrschen, und die auch schon vor COVID kaum jemals ins Ausland gefahren sind. Hier haben wir mit gezielten Trainings an der Stärkung und Ermutigung zur Offenheit zumindest jener Menschen gearbeitet, die im regionalen Tourismus tätig sind. Wenn so jemand erstmals in ein außereuropäisches Land reist, wäre er/sie ohne entsprechende Hilfe völlig überfordert.

Eben diese Hilfe muss der Reiseveranstalter bieten: Auf meinen Marokko-Reisen ermutigte ich meine Kund*innen, während der Mittagspausen eigenständig den nahegelegenen Markt zu besuchen und per nonverbaler Kommunikation Obst oder andere Köstlichkeiten zu kaufen. Der Erfolg war stets berührend: eine Mischung aus stolzem Erfolgserlebnis, Freude an der Hilfsbereitschaft durch den marokkanischen Händler ­– und ein gewonnenes Stück an neuem Selbstvertrauen und Freiheit. Wir müssen weniger fordern, sondern mehr fördern. Damit können wir nicht die ganze Welt retten, aber einen wertvollen Beitrag dazu leisten.

Cornelia Kühhas: Zum Schluss möchte ich noch einen anderen Aspekt einbringen: Touristische Aktivitäten haben ja nicht nur Auswirkungen direkt in der bereisten Destination, sondern auch indirekte anderswo. Etwa die Emissionen des Flugverkehrs. Ich fliege beispielsweise nach Norwegen und besuche dort ein nachhaltiges Tourismusprojekt, aber die Auswirkungen des Klimawandels bekommen die Menschen z.B. in Afrika stärker zu spüren.

Und der Klimawandel befeuert Konflikte. Seine Auswirkungen – Unwetter, Naturkatastrophen, Hitze … – zerstören die Lebensgrundlagen von vielen Menschen, natürliche Ressourcen wie Wasser werden knapp, Ernten vernichtet, Migrationsströme verstärkt, das alles ist ein Nährboden für die Entstehung von Konflikten. Als einer der größten Wirtschaftszweige der Welt kann und muss auch die Tourismuswirtschaft Verantwortung übernehmen und einen wesentlichen Beitrag leisten, indem endlich ein Kurs hin zu einem nachhaltigen Wirtschaften eingeschlagen wird.

Harald A. Friedl: Cornelia, ich kann nur sagen „touché“. Damit hast Du die wohl größte Diskrepanz des „nachhaltigen“ Tourismus im internationalen Kontext auf den Punkt gebracht. Darüber habe ich bereits mit Christian Hlade gestritten, der mit seinen ausgezeichneten „Welt-weit-wandern”-Angeboten wertvolle Beiträge in den Zielgebieten leistet. Der von Dir genannte Makel bleibt bestehen – und wird größer. Auf meiner Vorlesung vor den „Students4Future“ am 29.6.2022 an der Universität Graz habe ich die These vertreten: „Fliegen zum Vergnügen ist krimineller Raub von Lebenschancen der zukünftigen Menschheit.” Auf Basis Deiner – leider nicht widerlegbaren – Argumentation wäre sogar eine Erweiterung nötig: „Fliegen zum Vergnügen ist Raub von Lebenschancen aufgrund des Beitrags zur Zerstörung von klimatischen und ökologischen Lebensgrundlagen und der daraus folgenden gewaltsamen Konflikte und Vertreibungen von Menschen”. Der Syrienkrieg wurde bereits als erster Klimakrieg diskutiert (Mashow 2018, https://www.germanwatch.org/de/16007; kritisch das Deutsche Klima-Konsortium, https://www.deutsches-klima-konsortium.de/fileadmin/user_upload/pdfs/PE_PM/20160211_PM_DKK-KF_zu_Klimawandel_und_Migration.pdf).

Doch über diese hoch komplexe Frage hinaus ist alles Öl, das wir verbrauchen, in den meisten Produktionsländern mit massiven Menschenrechtsverstößen oder gar Kriegen verbunden, ob die drei Golfkriege, der „War against Terror”, der Bürgerkrieg in Libyen und Jemen und viele andere: Intensiver Energieverbrauch trägt – über ein paar Kausalketten ­– immer zu menschlichen Tragödien bei. Darum kann nur Tourismus mit geringem Energieverbrauch nachhaltig und insofern friedensfördernd sein. Alles andere wäre Bauchpinselei …
 

VCÖ Grafik
Quelle: Verkehrsclub Österreich VCÖ, 2022

 

Die Gesprächspartner*innen:

HARALD A. FRIEDL ist Professor für Nachhaltigkeit und Ethik im Tourismus an der FH JOANNEUM, Institut für Gesundheit und Tourismusmanagement in Bad Gleichenberg, und zudem interkultureller Trainer der Internationalen Friedenstruppen des Österreichischen Bundesheeres.
 
SABRINA HAASE ist Junior Content Managerin bei fairunterwegs und hat zuletzt ihren Master im Nachhaltigen Tourismus an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde absolviert.
 
CORNELIA KÜHHAS ist Expertin für Nachhaltige Tourismusentwicklung und Entwicklungszusammenarbeit bei respect_NFI.