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OVERTOURISM! Wie viele TouristInnen verträgt die Welt?
Der Club Tourismus & die Naturfreunde Internationale – respect luden am 20. Februar 2018 zur Diskussionsrunde "OVERTOURISM! Wie viele TouristInnen verträgt die Welt?".
Gerade im vergangenen Jahr, dem „Internationalen Jahr des Nachhaltigen Tourismus für Entwicklung“ haben sich Meldungen über Proteste von Einheimischen gegen die Touristenflut gehäuft. Was hat das „Fass zum Überlaufen“ gebracht? Wie kann dem Problem begegnet werden? Wie gehen die betroffenen Destinationen damit um, welche Strategien entwickeln sie? Wie kann ein Tourismus aufgebaut werden, von dem Einheimische und Gäste gleichermaßen profitieren?
Darüber diskutierten unter der Moderation von Marco Riederer, Präsident des Club Tourismus: Dagmar Lund-Durlacher / modul university vienna, Franz Hartl / ehem. Geschäftsführer der Österreichischen Hotel- und Tourismusbank, Kerstin Dohnal / destination:development, Josef Peterleithner / Präsident des Österreichischen Reiseverbands, Harald Friedl / FH Joanneum Bad Gleichenberg, Katrin Karschat / Naturfreunde Internationale – respect.
NACHLESE "OVERTOURISM – WIE VIELE TOURIST/INNEN VERTRÄGT DIE WELT?
Marco Riederer zitiert in seiner Einleitung eine Travel Bird Studie zu den "gästefreundlichsten Städten", die auf Befragungen der lokalen Bevölkerung beruht; auf den vordersten Plätzen liegen Singapur, Stockholm und Helsinki, Wien rangiert auf Platz 41, Budapest auf Platz 100. In einer Befragung im Rahmen der ITB gaben 25 Prozent der Reisenden an, dass die Destination, in der sie zuletzt ihren Urlaub verbracht haben, überfüllt war. 2017 verzeichnete die UNWTO 1,3 Mrd. internationale Ankünfte weltweit, die Prognose für das Jahr 2030 ist 1,8 Mrd.
Wie ist es dazu gekommen, dass wir von „Overtourism“ sprechen?
Von "Overtourism" sprechen wir dann, wenn das Verhältnis zwischen Bevölkerung und TouristInnen nicht mehr stimmt. Darin sind sich die ExpertInnen am Podium einig.
Josef Peterleithner merkt an, dass Overtourism kein neues Phänomen ist: "Schon 1880 schimpften die Bewohner der Isle of Man über den Massentourismus, weil Dampfschiffe aus Liverpool jährlich 100.000 Touristen brachten …"
Kerstin Dohnal gibt zu bedenken, dass das Gefühl "es ist zu voll" (auch) ein subjektives ist und von der Erwartungshaltung beeinflusst ist. "Wir alle haben das Bedürfnis nach Einsamkeit, nach viel Platz – aber auf Reisen begegnen wir überall anderen Menschen. Wunsch und Realität klaffen auseinander."
Außerdem fühlen sich die Menschen an der Basis oft nicht miteinbezogen. Kerstin Dohnal: "Hier liegen die Wurzeln des Widerstandes. Das Gefühl ist: Die touristische Entwicklung ist einfach passiert, über meinen Kopf hinweg, ohne meinen Einfluss …"
"Overtourism" ist auch sehr punktuell – man denke an Venedig, Barcelona, Dubrovnik, Salzburg …
Franz Hartl meint, dass hier "Konzentration" das Schlüsselwort ist: "Immer dann, wenn zu viele auf einem Punkt zusammenkommen, kommt es zum Knautsch. Leider geht der Trend zu immer stärkerer Konzentration. Beispielsweise im Skitourismus: 11 Prozent der Liftgesellschaften besitzen 48 Prozent der Pistenkilometer. Die so genannten Skierdays insgesamt bleiben gleich, sind aber nur auf wenige Gebiete konzentriert. Dazu kommt noch die saisonale Konzentration. Und wenn sich der Nächtigungstourismus mit dem Tagesausflugstourismus trifft, dann tut´s richtig weh …"
Dagmar Lund-Durlacher nennt auch die leichte und günstige Erreichbarkeit – Stichwort Low-Cost-Carrier – von touristischen Hotspots als Ursache für Overtourism.
Unser Konsumverhalten fördert den Overtourism ...
Marco Riederer zitiert ein Radiointerview mit Harald A. Friedl (FH Joanneum), der unsere Konsumgesellschaft für den Overtourism mitverantwortlich macht. Wir wollen alle immer mehr konsumieren, das gilt auch fürs Reisen, und wir konsumieren das, was uns angeboten wird, das sind die touristischen Hotspots. Friedl plädiert für einen Paradigmenwechsel.
"Kann man das Mindset ändern?" ist die Frage an die ExpertInnen am Podium:
Josef Peterleithner: "Jeder ist gefragt, sein Verhalten zu ändern! Ich kann entscheiden, ob ich den billigen Flug für zwei Tage nach Barcelona nehme, oder ob ich eine Woche hinfahre und Zeit habe, auch das Umland zu besichtigen. Der Trend ist, öfter, aber kürzer zu verreisen. Reisen ist ein Grundbedürfnis und das Reisen wird weltweit dramatisch zunehmen."
Kerstin Dohnal: "Tourismus ist ein Konsumgut und auch Trends unterworfen. Ich glaube aber schon, dass sich ein Paradigmenwechsel abzeichnet, dass sich die Art und Weise, wie wir konsumieren, ändert. Das sehen wir jetzt schon im Lebensmittelhandel, Stichwort Bio-Produkte. Beim Reisen steckt ein Bedürfnis dahinter, mit den Menschen in Kontakt zu kommen, etwas zu entdecken, es geht um ein wirkliches Erlebnis. Es geht um eine Umverteilung, die Umverteilung ist für mich das Schlüsselwort."
Katrin Karschat: "Ich glaube auch – und sehe das auch in meiner Arbeit gerade mit Jugendlichen –, dass der Wunsch da ist, anders zu reisen. Aber vielfach ist einfach das Wissen nicht vorhanden, was faires, nachhaltiges Reisen bedeutet. Hier liegt der Schlüssel in der Bewusstseinsbildung: Wir müssen aufzeigen, dass es auch anders geht – und wie."
Dagmar Lund-Durlacher: "Gesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinflussen unser Reiseverhalten. Keiner hat mehr Zeit für drei Wochen Urlaub, im Gegenteil, Kurzurlaube boomen, man will mehrere Destinationen in immer kürzerer Zeit besuchen. Und die Folge ist, dass die so genannten Hotspots verstärkt besucht werden. Nur wenn der Tourist Zeit hat, besucht er auch Orte abseits dieser Hotspots."
Lösungsansätze: Entzerrung, Management, Regelungen & Information
Josef Peterleithner: "Im Tourismus braucht es auch Wachstum, um überleben zu können. Zu Problemen kommt es dort, wo der Einklang mit Bevölkerung nicht mehr passt. Manche Destinationen reagieren schon darauf: In Venedig werden die Landestationen für die Kreuzfahrtschiffe außerhalb der Stadt gelegt, Mallorca hat Ökosteuern eingeführt. Ich finde, dass die so lukrierten Einnahmen in Projekte investiert werden müssen, die der Bevölkerung zu Gute kommen. Und das muss transparent erfolgen."
Lund-Durlacher: "Wichtig ist, dass die einheimische Bevölkerung die touristische Infrastruktur nützen kann. Wenn es Interessenskonflikte gibt, dann kommt Unmut auf – vor allem wenn die Auswirkungen des Tourismus negativen Einfluss auf das eigene Leben haben, zum Beispiel Lärmbelästigung. In diesem Zusammenhang ist Berlin ein gutes Beispiel: Die AnrainerInnen fühlten sich durch den Lärm der TouristInnen gestört. Die Lösung war, dass man PantomimInnen losgeschickt hat, die den Gästen das Problem deutlich machen. Das hat gut funktioniert."
Franz Hartl: "Es müssen alle spüren, dass sie vom Tourismus profitieren."
Kerstin Dohnal: "Ich sehe die Politik und Gesellschaft gefordert, die unangenehmen Fragen zu stellen, denn es sind nicht nur die vordergründigen Themen, die die Menschen bewegen."
Katrin Karschat: "Ganz wichtig ist, dass die lokale Bevölkerung bei den Planungen miteinbezogen wird und dass auf die naturräumlichen und regionalen Gegebenheiten Rücksicht genommen wird."
Dagmar Lund-Durlacher: "Die Information ist ein wichtiger Aspekt! Wir geben noch viel zu wenig Infos weiter – wir sollten die modernen Technologien besser nutzen und so die Touristenströme steuern. Beispiel Schönbrunn: Nur 7 Prozent der Gäste bestellen ihr Ticket vorab online, viele müssen weggeschickt werden."
Franz Hartl: "Die Politik ist gefordert, regelnd einzugreifen. Man muss räumliche Konzentrationen entzerren: Zum Beispiel Zeitslots für Busse in Salzburg, Führungen in der Nacht in Schönbrunn, Umdirigieren der BesucherInnen nach Schloss Hof u.ä.m.
Die Verantwortung der TouristInnen
Kerstin Dohnal: "Wir sprechen immer vom bösen Massentourismus und vom guten Individualtourismus – da muss man dringend eine Anpassung der Begriffe vornehmen! Organisiertes Reisen hat ja den Vorteil, dass man die Touristenströme besser lenken kann. IndividualtouristInnen schwirren unkontrolliert herum – und auch IndividualtouristInnen tauchen in Massen auf."
Katrin Karschat: "Ich plädiere an die Eigenverantwortung der TouristInnen. Wichtig ist, sich auf das Reiseland vorzubereiten, auf die Kultur, die Lebensweise. Die Erwartungshaltung muss sich am Reiseziel orientieren. Viele nehmen sich nicht die nötige Zeit und sehen ihr Reiseziel nur als Kulisse für tolle Fotomotive, die man dann auf Whatsapp oder Instagramm verschickt."
Wie kann nachhaltiger Tourismus funktionieren?
Kerstin Dohnal: "Software for Hardware! Zuerst schauen, wo die Bedürfnisse und Grenzen liegen. Eine Bauchschätzung (also das persönliche Gefühl, die menschlichen Bedürfnisse) als Kapazitätsgrenze, plus ein Monitoringsystem, wo man da und dort noch justieren kann. Wichtig ist, dass man im Gespräch bleibt und als Destination seine Identität hat."
Josef Peterleithner: "Auch Destinationen müssen sich die Frage stellen: "Die Geister, die ich rief" oder "die Gäste, die ich rief"?"
Dagmar Lund-Durlacher: "Proaktiv tätig sein, Produkte weg von touristischen Trampelpfaden entwickeln. Overtourism ist konzentriert auf einzelne Plätze und einzelne Zeiten, das muss entzerrt werden, da ist die touristische Planung gefordert."
Katrin Karschat: "Es braucht kreative Ansätze, alle Stakeholder müssen an einen Tisch gebracht werden, um gemeinsam zu gestalten und alle Interessen einfließen zu lassen, damit die Entzerrung von vornherein gelingt."
Franz Hartl: "Information ist wichtig! Das Ziel muss schon sein zu wachsen, aber verträglich zu wachsen. Das geht nur in Zusammenarbeit mit allen Playern und mit viel Kommunikation! Es müssen alle spüren, dass sie vom Tourismus profitieren."
Schlussrunde:
Franz Hartl: "Es gibt keinen Overtourism, es gibt nur Under-Management."
Dagmar Lund-Durlacher: "Tourismusplanung und strategische Entwicklung sind das Um und Auf. Zur Tourismusplanung gehört dazu, dass man alle Beteiligten und Betroffenen mit ins Boot holt und sie mitplanen lässt."
Josef Peterleithner: "Wir Reiseveranstalter tragen zur Entzerrung bei – keiner muss zu Weihnachten wegfahren oder in den Sommerferien. Jeder kann in der Nebensaison verreisen. Es gibt gnügend Angebote der Reisebranche."
Katrin Karschat: "Jede/r kann seinen Beitrag leisten, dass sich das Blatt im Tourismus wendet, hin zu einem Tourismus, von dem alle Beteiligten profitieren, und der die Natur und Ressourcen bestmöglich schont. Man sollte sich mehr Zeit nehmen – um mit der lokalen Bevölkerung in Austausch zu kommen, um die Kultur und Landschaft zu erleben, auch abseits der touristischen Trampelpfade."
Kerstin Dohnal: "Eine Reisedestination ist immer ein Begegnungsraum, seine Gestaltung ist Verhandlungssache. Das ist mühsam und kann lange dauern, es gibt viele Stakeholder, viele Interessen. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist anstrengend, aber es lohnt sich, weil am Ende kann man Brücken bauen, anstatt Grenzen aufzubauen – und dann findet wirklich Austausch statt."